Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In tatsächlicher Hinsicht geht aus dem Berufungsurteil hervor, dass der Pkw-Fahrer (Kläger) aus einem rechts neben der Straße befindlichen Tankstellengelände und über einen abgesenkten Bordstein auf die Straße eingefahren war. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens und der geringen Größe der Lücke konnte er sich nicht vollständig vor dem vom Zeugen G. geführten Lkw (Beklagter) einordnen, der zuvor aufgrund einer roten Ampel – jedoch nicht als erstes Fahrzeug, sondern in gewissem Abstand – zum Stehen gekommen war und sich nun seit ca. fünf Sekunden mit einer Geschwindigkeit von nicht höher als 10 km/h wieder in Vorwärtsfahrt befand.
Unstreitig war zudem, dass kein Blickkontakt zwischen beiden Fahrzeugführern zustande gekommen war. Nach sachverständiger Beratung konnte dagegen nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob das Klägerfahrzeug für den Lkw-Fahrer durch die Frontscheibe sichtbar war. Hinreichend gewiss – und hier beginnt nun der rechtlich interessante Teil des Falls – war dagegen eine Sichtbarkeit des Pkws durch den Front- und Bordsteinspiegel (auch „Rampenspiegel“ oder „Anfahrspiegel“). Unstreitig hatte der Lkw-Fahrer vor dem erneuten Anfahren nicht in diese beiden Spiegel geschaut.
Als sich das Klägerfahrzeug beim Einfahrvorgang noch in schräger Position, zum Kollisionszeitpunkt nachweislich stehend, und mit einem „nicht unerheblichen Teil des Fahrzeuges zudem noch auf der Ausfahrt“ befand, kam es zur Kollision mit dem Lkw, wobei offenbar nicht aufzuklären war, wie lange der Kläger mit seinem Fahrzeug (wieder) zum Stehen gekommen war.
In erster Instanz hatte die Klage teilweise – in nicht näher ausgeführtem Umfang – Erfolg.
Das OLG Köln hat auf die Berufung der Beklagten die Entscheidung abgeändert und vollumfänglich abgewiesen.
Bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs. 2 StVG sei nämlich aufseiten des Klägers ein schwerer Verstoß gegen § 10 StVO zu berücksichtigen (Rn. 4 f.), wohingegen ein Verkehrsverstoß des Fahrzeugführers des Beklagten-Lkw (Zeuge G.) nicht nachgewiesen sei (Rn. 6 ff.).
Auf Grundlage der festgestellten, überwiegend unstreitigen Tatsachen (vgl.o.) sei der vom Kläger durch Ausfahren aus dem Tankstellengelände initiierte und nach § 10 StVO zu beurteilende Einfahrvorgang noch nicht abgeschlossen gewesen, da er sich noch nicht wieder endgültig in den fließen Verkehr eingeordnet hatte. Dies gelte unabhängig davon, ob und wie lange das Klägerfahrzeug bei der Kollision gestanden habe. Kurzzeitige, den Einfahrvorgang unterbrechende Haltevorgänge verringern die Gefährlichkeit des Einfahrvorgangs nicht, sondern führen wegen der zeitlichen Verzögerung häufig sogar zu größeren Gefahren. Wegen des räumlich-zeitlichen Zusammenhangs zwischen Unfall und Einfahren spreche ein vom Kläger nicht erschütterter Anscheinsbeweis gegen diesen. Der Verstoß gegen § 10 StVO wiege im Streitfall besonders schwer, da der Kläger sehenden Auges in einen für den Zeugen G. „klar erkennbar nicht oder allenfalls schwer einsehbar(en)“ Bereich eingefahren sei und nicht habe davon ausgehen dürfen, erkannt bzw. gesehen zu werden.
Besonders interessant sind die Ausführungen des Senats zu dem vom Landgericht angenommenen, in zweiter Instanz aber verneinten Verstoß des Lkw-Fahrers gegen das Rücksichtnahmegebot gemäß den §§ 1 Abs. 1, 11 Abs. 3 StVO: Aus Beweislastgründen sei nur eine Sichtbarkeit des Klägerfahrzeuges für den Zeugen G. im Front- und Bordsteinspiegel anzunehmen. Ein Lkw-Fahrer sei aber nicht verpflichtet, bei einem Anfahren nach Umschalten einer Ampel Front- und Bordsteinspiegel im Auge zu behalten, da diese nach ihrem Schutzzweck (Vergewisserung über Fußgänger oder Radfahrer unmittelbar vor der Front bzw. Erleichterung des Rangierens an der Bordsteinkante) nicht für den hier gegenständlichen Fall bestimmt seien. Der Blick in diese Spiegel stelle deshalb hier keinen „üblichen und standardgemäß vorzunehmenden Vorgang dar“. Der Lkw-Fahrer habe auf Grundlage des Vertrauensgrundsatzes annehmen dürfen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsgerecht verhalten und sich insbesondere kein anderes Fahrzeug unmittelbar vor seines gesetzt habe.
In diesem Zusammenhang lässt es der Senat mangels Entscheidungsrelevanz offen, ob besondere Sorgfaltspflichten des fließenden Verkehrs gegenüber potenziell vorschriftswidrig handelnden Verkehrsteilnehmern bestehen können. Dies sei aber zweifelhaft, da der Vertrauensgrundsatz so weitgehend leerlaufe. Vielmehr seien Einschränkungen nur in solchen Verkehrssituationen anzunehmen, in denen über eine abstrakt gefährliche Situation hinaus konkrete Anhaltspunkte für ein akut bevorstehendes verkehrswidriges Verhalten bestehen. Davon könne auf Grundlage der konkreten Einzelfallumstände aber aus der (maßgeblichen) Perspektive des Zeugen G., welcher nicht einmal habe erkennen können, dass nach der Ampel in seiner Fahrtrichtung von rechts Fahrzeuge speziell aus einer Tankstelleneinfahrt kommen könnten, nicht die Rede sein.
Bei dieser Sachlage trete die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges zurück und der Kläger müsse seinen Schaden vollständig selbst tragen.
Kontext der Entscheidung
Verkehrsunfälle, die (auch) wegen des eingeschränkten Blickfeldes aus dem Führerhaus eines Lastkraftwagens zustande kommen, sind nicht selten. Die hier behandelte Entscheidung zeigt anschaulich, dass auch unter Berücksichtigung der bauartbedingt erhöhten Unfall- und demzufolge Betriebsgefahr eines Lkws eine alleinige Haftung des Unfallgegners möglich ist – selbst dann, wenn der Lkw wie hier gegen ein stehendes Fahrzeug fährt.
Ausgangspunkt und Weichenstellung für die Haftungsverteilung war der Umstand, dass der Kläger aus einer Tankstellenausfahrt (inklusive abgesenktem Bordstein) auf die Fahrbahn fuhr und deswegen § 10 StVO zu beachten hatte („aus einem Grundstück“ bzw. „über einen abgesenkten Bordstein“). Auf Grundlage der Feststellungen zur Unfallstellung (schräg, zum Teil noch auf der Ausfahrt) war dieser Vorgang auch eindeutig noch nicht abgeschlossen (vgl. dazu statt vieler OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.09.2020 - 1 U 6/19; OLG München, Urt. v. 20.05.2011 - 10 U 3958/10).
Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, spricht nach einhelliger Rechtsprechung ein Anscheinsbeweis gegen den Anfahrenden (beispielsweise BGH, Urt. v. 20.09.2011 - VI ZR 282/10; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.09.2020 - 1 U 6/19; OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.02.2016 - I-1 U 50/15, 1 U 50/15 ergänzend zu den im Urteil zitierten Entscheidungen). Diesen Anscheinsbeweis vermochte die Klagepartei nicht zu erschüttern. Erschwerend kam hinzu, dass der Senat wegen der klaren Erkennbarkeit der Vorfahrtsverhältnisse und der angestellten Weg-Zeit-Betrachtungen ein Verschulden sogar für positiv nachgewiesen erachtete, da dem Kläger – so der Senat sinngemäß – hätte bewusst sein müssen, dass der Zeuge G. ihn aus dem Lkw nicht gesehen hatte und wohl auch nicht sehen konnte.
Die eigentliche Kernfrage stellt sich nach dem zugrunde zu legenden Sachverhalt aufseiten des Lkw-Führers: Soll dieser nach einem verkehrsbedingten Halt (d.h. gerade nicht im Anwendungsbereich von § 10 StVO) vor dem erneuten Ingangsetzen des Fahrzeuges grundsätzlich und ohne spezifische Anhaltspunkte für Gefahren verpflichtet sein, neben Außenspiegeln und Rückspiegel auch die wegen der eingeschränkten Sichtmöglichkeiten zusätzlich angebrachten Spiegel auf der rechten vorderen Fahrzeugseite im Blick zu behalten? Die in § 56 StVZO geregelte Pflicht zur Ausrüstung von Lastkraftwagen beruht auf Unionsrecht (insbesondere der durch die Richtlinie 2003/97/EG umfassend geänderten Richtlinie 70/156/EWG, vgl. die Verweise in § 56 Abs. 2 StVZO).
Entgegen einer möglichen intuitiven Neigung, eine solche Pflicht zum „Rundumblick“ anzunehmen, verneint der Senat diese Frage mit guten Argumenten: Die beiden Spiegel, in welchen das Klägerfahrzeug hier sichtbar gewesen wäre, haben jeweils (nur) einen spezifischen Anwendungsbereich, wovon sich auch das OLG Köln im konkreten Fall sachverständig beraten überzeugt hat.
Der Frontspiegel dient in erster Linie dazu, Fußgänger und Radfahrer zu erkennen, die sich direkt vor dem Lkw befinden. Eine Pflicht, den Frontspiegel zu benutzen, entsteht deswegen jedenfalls in solchen Situationen, in denen erfahrungsgemäß eine erhöhte Gefahr für eine Querung direkt vor einem Lkw besteht oder aber zumindest eine für den Lkw-Fahrer erkennbare Gefahr durch ein (Fehl-)Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer i.S.d. Vermeidung von Personen- oder Sachschäden eine Vergewisserung über den Nahbereich vor dem Fahrzeug erfordert.
Eine typische Situation, in der ein Blick in den Frontspiegel grundsätzlich vorgenommen werden sollte, ist das Anfahren nach Umschaltung einer Ampel, wenn unmittelbar vor dem Lkw Fußgänger- bzw. Radverkehr stattfindet (d.h. vor allem: wenn der Lkw das erste Fahrzeug an der Ampel ist). So lag es hier aber nicht, da der Beklagten-Lkw nicht unmittelbar an der Ampel stand, sondern in gewissem Abstand davon und die Lücke vor dem Lkw erst nach dem Umschalten der Ampel aufgrund der verschiedenen Geschwindigkeiten beim Anfahren entstand. Eine gesteigerte Gefahr für Fuß- oder Radverkehr direkt vor dem Lkw bestand deshalb nicht.
Zu einem anderen Ergebnis hätte man gleichwohl mit Blick auf die (Tankstellen-)Einfahrt von rechts in die vom Beklagten-Lkw befahrene Vorfahrtsstraße kommen können. Das OLG München (Urt. v. 25.11.2020 - 10 U 1942/20) hat hierzu in einem jedenfalls im Ausgangspunkt gleichliegenden Sachverhalt ausgeführt: „Jedenfalls musste der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges angesichts dessen, dass er in einem Staugeschehen vor der Ausfahrt einer Tankstelle zum Stehen gekommen war, damit rechnen, dass andere Fahrzeuge unter Nichtbeachtung der Verpflichtungen aus § 10 StVO auch kleinere sich zum Ausfahren bietende Lücken zu nutzen versuchen und dabei vor dem Beklagtenfahrzeug zum Stehen kommen“. Das OLG München hat damit eine Pflicht zur Nutzung des Frontspiegels letztlich rein aus der Verkehrssituation „Stau an einer Tankstellenausfahrt“ abgeleitet, ohne dass für den dort beteiligten Lkw-Fahrer über die sonstigen Spiegel und die Windschutzscheibe bereits eine konkrete Gefahr erkennbar gewesen wäre. Ergebnis war dort eine hälftige Haftungsteilung.
Ebenso hat der österreichische OGH (Urt. v. 27.04.2017 - 2 OB 169/16s) ausgeführt: „Auch ist kein Grund ersichtlich, warum von der tatsächlichen Benutzung eines vorgeschriebenen, die mangelnde Direktsicht ausgleichenden Spiegels (der hier unbestrittenermaßen auch vorhanden war), Abstand genommen werden dürfte bzw. warum dies gerade bei ‚Stop-and-Go-Verkehr‘ der Fall sein sollte. Gerade in solchen Fällen muss z.B. mit dem – zulässigen – ‚Vorschlängeln‘ einspuriger Verkehrsteilnehmer gemäß § 12 Abs. 5 StVO etc. gerechnet werden. Die Verpflichtung, die gesamte Fahrbahn in ihrer ganzen Breite zu beobachten, gilt aber auch vor dem Losfahren mit einem verkehrsbedingt angehaltenen Kraftfahrzeug.“ Der OGH hat das Mitverschulden des Lkw-Lenkers mit einem Viertel bewertet. Diese selbstredend auf Grundlage des österreichischen Rechts ergangene Entscheidung ist wegen des unionsrechtlichen Bezugs auch für die Auslegung des deutschen Rechts von hoher Relevanz.
Das OLG Köln hat in Bezug auf diese sehr interessante und höchstrichterlich noch offene Rechtsfrage angedeutet, dass es die vom OLG München vertretene Auffassung zu den Rücksichtspflichten für Lkw-Fahrer bzgl. etwaiger vorschriftswidrig handelnder Verkehrsteilnehmer für zu weit erachtet und hat sich erkennbar darum bemüht, von den Fahrzeugführern großer Nutzfahrzeuge keine nach seiner Auffassung wohl unrealistischen Dinge zu erwarten. Verkehrssituationen, in denen abstrakt (!) „damit zu rechnen ist, dass häufiger Fahrzeuge auf eine bevorrechtigte Straße ausfahren“ (OLG München: „Ausfahrten von größeren Firmengeländen, Gewerbebetrieben, Großmarkthallen, Einkaufszentren sowie Tankstellen“) sind in der Tat zahlreich, so dass eine Nutzung des Frontspiegels in jeder dieser Situationen ohne weitere Anhaltspunkte die Sorgfaltspflichten für Lkw-Fahrer überstrapazieren könnte.
Eine definitive Festlegung – und damit auch die Zulassung der Revision (vgl. Rn. 13) – hat das OLG Köln jedoch mit Verweis auf eine unterschiedliche Fallgestaltung dahin gehend vermieden, dass der Charakter als Tankstellenausfahrt (und somit einer „abstrakt gefährlichen“ Situation nach dem OLG München) für den Lkw-Fahrer hier überhaupt nicht erkennbar gewesen sei. Selbst nach dem Maßstab des OLG München (und des OGH) hätte hier also wohl keine Pflicht zur Nutzung des Frontspiegels bestanden.
Die abschließende Entscheidung zwischen diesen jeweils gut vertretbaren Ansichten dürfte davon abhängen, worauf man den Schwerpunkt legt: Das OLG Köln hat zu Recht ausgeführt, dass der Vertrauensgrundsatz (vgl. statt vieler Müther in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 1 StVO, Stand: 11.02.2025 Rn. 36 ff.) sehr weit eingeschränkt würde, sähe man konkrete Anhaltspunkte für eine Vorfahrtsverletzung – eine anerkannte Fallgruppe für eine Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes, vgl. BGH, Urt. v. 20.09.2011 - VI ZR 282/10 – schon in der bloßen Existenz von häufig genutzten Ausfahrten. Umgekehrt ist der sowohl vom OLG München als auch vom OGH angeführte Schutzzweck der zugrunde liegenden Richtlinie (RL 2003/97/EG; Erwägungsgründe u.a. die umfassende Verringerung der durch bestimmte Fahrzeuge aufgrund indirekter Sicht verursachte Unfälle) nicht von der Hand zu weisen.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des OLG Köln befasst sich mit einer höchst praxisrelevanten Problematik, die in ähnlicher Form auch unter der Beteiligung eines Busses oder Müllfahrzeuges nach einem Beladevorgang denkbar wäre. Im letzteren Falle wäre allerdings § 10 StVO anwendbar, so dass der Maßstab für die notwendigen Spiegelblicke noch schärfer wäre.
Das OLG Köln vertritt, wie oben dargelegt, bei der Definition der Sorgfaltspflichten von Berufskraftfahrern eine weniger strenge Auffassung als das OLG München, ohne dass die Divergenz nach dem festgestellten Sachverhalt entscheidend war. Gerade für den Fall einer als solchen erkennbaren Tankstellenausfahrt wäre eine höchstrichterliche Entscheidung sicherlich von hohem Interesse für die Praxis, wenngleich eine letztverbindliche Klärung aufgrund der nie vollständig identischen Situationen natürlich kaum gelingen wird.
Folgt man dem OLG München, stellt sich – wie stets abhängig von den Einzelfallumständen – die Frage, wie schwer diese Sorgfaltspflichtverletzung gegenüber dem häufig an § 8 StVO oder § 10 StVO zu messenden Fehlverhalten auf der anderen Seite ins Gewicht fällt. Eine hälftige Teilung dürfte auch unter Berücksichtigung der bauartbedingt erhöhten Betriebsgefahr von großen Fahrzeugen, die sich in derartigen Unfällen auch kausal niederschlägt, sicherlich im oberen Bereich des Spektrums liegen.