Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Die Klägerin verlangt von der beklagten Gemeinde einen Bauvorbescheid für einen Lebensmittel-Discounter. Ihre Klage blieb in erster Instanz erfolglos, weil dem Vorhaben nach Auffassung des VG eine Veränderungssperre entgegenstand. Während des Berufungsverfahrens trat im Jahr 2019 ein neuer Bebauungsplan in und damit die Veränderungssperre außer Kraft. Der Plan schließt Einzelhandel aus; ebenso der vorhergehende Plan aus dem Jahr 2005. Über die Wirksamkeit der Pläne streiten die Beteiligten. Im Berufungsverfahren berief sich die Gemeinde erstmals auf einen früheren Vergleich zwischen den Beteiligten; in diesem hatte sich die Klägerin verpflichtet, den Plan aus dem Jahr 2005 zu beachten. Dieses Argument überzeugte das OVG. Nach seiner Auffassung fehlt der Klägerin das Sachbescheidungsinteresse für die Genehmigung, weil der Vergleich deren Ausnutzung verbietet. Die Entscheidung traf das OVG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a VwGO. Dieses Vorgehen hat das BVerwG als prozessordnungswidrig beanstandet.
II. Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das OVG über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
1. Das Gesetz verlangt die Einhaltung bestimmter Verfahrensschritte: Anhörung der Beteiligten, Hinweis auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung, Gelegenheit zur Äußerung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.08.2015 - 4 B 15/15 Rn. 5 m.w.N.). Diese Schritte hatte das OVG ordnungsgemäß durchgeführt.
2. Es steht im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es unter den Voraussetzungen des § 130a VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet. Die Grenzen des Ermessens sind weit gezogen. Das Revisionsgericht kann die Entscheidung lediglich darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung beruht (st.Rspr., vgl. BVerwG, Urt. v. 30.06.2004 - 6 C 28/03 - BVerwGE 121, 211, 213 m.w.N.). Einen solchen Fall hat das BVerwG angenommen.
a) Einige grundsätzliche Überlegungen: Obwohl § 130a VwGO keine ausdrücklichen Einschränkungen enthält, hat das Berufungsgericht bei seiner Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes als gesetzlicher Regelfall und Kernstück auch des Berufungsverfahrens erweist (§ 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Bei der Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO dürfen – auch in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 EMRK – die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre Bedeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem Blick geraten. Grundsätzlich soll die gerichtliche Entscheidung das Ergebnis eines diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sein. Das Rechtsgespräch erfüllt unter anderem den Zweck, die Ergebnisrichtigkeit der gerichtlichen Entscheidung zu fördern. Das Gebot, die Rechtssache mit den Beteiligten zu erörtern, wird umso stärker, je schwieriger die vom Gericht zu treffende Entscheidung ist. Die Grenzen des Ermessens sind daher erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nach den Gesamtumständen des Einzelfalls außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.06.2004 - 6 C 28/03 - BVerwGE 121, 211, 217 und BVerwG, Urt. v. 09.12.2010 - 10 C 13/09 Rn. 23 f. - BVerwGE 138, 289; BVerwG, Beschl. v. 08.07.2022 - 9 B 33/21 Rn. 6). Zudem ist eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren grundsätzlich dann geboten, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht angesprochene Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden. In diesem Fall müssen die Beteiligten die Gelegenheit erhalten, sich zu den neuen entscheidungserheblichen Fragen in einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu äußern. Das gilt für neue Rechtsfragen ebenso wie für neue Tatsachenfragen, weil zu beidem rechtliches Gehör in prozessordnungsgemäßer Form zu gewähren ist.
b) Daran gemessen hätte das OVG mündlich verhandeln müssen; seine gegenteilige Auffassung erschien als grobe Fehleinschätzung.
Der Vergleich, die zwischen den Beteiligten umstrittenen Rechts- und Tatsachenfragen zu dessen Inhalt und Wirksamkeit sowie zu einer etwaigen Verwirkung waren im erstinstanzlichen Verfahren vor dem VG nicht angesprochen worden. Was aus dem Vergleich zu folgern wäre, war in zweiter Instanz zwischen den Beteiligten nur schriftsätzlich erörtert worden. Bei diesem Verfahrensstand hörte das OVG die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO an und wies darauf hin, dass es die Berufung für unbegründet halte, wenn auch aus neuen, vom VG noch nicht erörterten Gründen. Dem trat die Klägerin entgegen und bat um Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Zu der vom OVG für entscheidungstragend gehaltenen Vergleichsbestimmung waren damit Rechts- und Tatsachenfragen aufgeworfen, die erörterungsbedürftig und zuvor nicht Gegenstand einer mündlichen Verhandlung waren. Die Einschätzung des OVG, es könne nach Aktenlage entscheiden, war grob fehlerhaft. Hauptstreitpunkt zwischen den Beteiligten war zunächst die Auslegung des Vergleichs. Eine Auslegung, die den Anforderungen der §§ 133, 157 BGB gerecht wird, darf nicht bei den Buchstaben des Vertragstextes stehen bleiben, sondern muss erforschen, wie der maßgebliche Wille der Beteiligten bei objektiver Würdigung zu verstehen ist. Dafür können auch Motive, Hintergrund und Begleitumstände des Vertragsschlusses zu berücksichtigen sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.01.1990 - 4 C 21/89 - BVerwGE 84, 257, 264 und BVerwG, Urt. v. 18.05.2021 - 4 C 6/19 Rn. 21 m.w.N. - NVwZ 2021, 1713). Feststellungen dazu lassen sich regelmäßig nicht ohne mündliche Erörterung mit den Vertragsparteien treffen. Gleiches gilt für die Umstände, die zur Beurteilung einer möglichen Verwirkung von Bedeutung sein können. Auf der Grundlage entsprechender Sachverhaltsermittlungen hätten zudem die von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfragen einer vertieften Erörterung in einer mündlichen Verhandlung bedurft. Das Fehlen einer Berufungsverhandlung spiegelte sich auch in den Gründen des Beschlusses wider, die sich zur Auslegung des Vergleichs, zu seiner Wirksamkeit und einer etwaigen Verwirkung eher kursorisch verhielt.
3. Einen Verstoß gegen § 130a VwGO sanktioniert die VwGO streng: Da die Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung auf der Grundlage des § 130a Satz 1 VwGO nicht vorlagen, verstieß der angegriffene Beschluss gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Eine unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergangene Entscheidung verletzt zugleich den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und stellt damit einen absoluten Revisionsgrund i.S.v. § 138 Nr. 3 VwGO dar. Das heißt im Klartext: Das Berufungsurteil wird aufgehoben und die Sache an das OVG zurückverwiesen, das erneut verhandeln muss.