juris PraxisReporte

Anmerkung zu:EuGH Große Kammer, Urteil vom 21.03.2023 - C-100/21
Autor:Dr. Matthias Koch, RA BGH
Erscheinungsdatum:31.03.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 823 BGB, § 826 BGB, EGV 385/2009, EGRL 46/2007, EGV 715/2007
Fundstelle:jurisPR-IWR 2/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Universität Bielefeld
Zitiervorschlag:Koch, jurisPR-IWR 2/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Individualschutz durch öffentlich-rechtliche Typengenehmigung



Tenor

1. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.09.2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 385/2009 der Kommission vom 07.05.2009 geänderten Fassung i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.06.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge sind dahin auszulegen, dass sie neben allgemeinen Rechtsgütern die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützen, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung ausgestattet ist.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es in Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften Sache des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats ist, die Vorschriften über den Ersatz des Schadens festzulegen, der dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestatteten Fahrzeug tatsächlich entstanden ist, vorausgesetzt, dass dieser Ersatz in einem angemessenen Verhältnis zum entstandenen Schaden steht.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung des EuGH klärt die Frage, ob Kraftfahrzeughersteller mit dem Einbau von nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtungen individualschützende Normen des Unionsrechts verletzen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Ausgangspunkt der EuGH-Entscheidung ist ein Verfahren vor dem LG Ravensburg. Dieses beschäftigt sich u.a. mit der Frage, ob dem Käufer eines Fahrzeugs ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 (im Folgenden: Unionsrecht) zusteht, wenn das von ihm erworbene Fahrzeug mit einem Dieselmotor ausgerüstet ist, der mit einer nicht mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Vorgaben in Einklang stehenden Software ausgestattet ist, die die Rückführung der Abgase dieses Fahrzeugs je nach Außentemperatur verringert („Thermofenster“).
Das Landgericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen hinsichtlich der Auslegung von Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG in der durch die Verordnung (EG) Nr. 385/2009 geänderten Fassung vom 07.05.2009 (im Folgenden: Rahmenrichtlinie) i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 vor.
Der EuGH setzt sich in seiner Entscheidung zunächst unter Berücksichtigung der Rahmenrichtlinie mit der EG-Typengenehmigung auseinander.
Mit dieser bescheinige ein Mitgliedstaat, dass ein Typ eines Fahrzeugs, eines Systems, eines Bauteils oder einer selbstständigen technischen Einheit den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen der Rahmenrichtlinie entspreche. Die Mitgliedstaaten dürften die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme von Fahrzeugen nur gestatten, wenn diese den Anforderungen der Rahmenrichtlinie entsprächen (Rn. 74 f.).
Alle Fahrzeuge, die in den Geltungsbereich der Rahmenrichtlinie fielen, bedürften einer solchen Typengenehmigung, die nur erteilt werden dürfe, wenn der fragliche Fahrzeugtyp den Bestimmungen der Verordnung Nr. 715/2007, insbesondere denen über Emissionen, zu denen Art. 5 dieser Verordnung gehöre, entspreche (Rn. 77).
Abgesehen von diesen Anforderungen an die EG-Typengenehmigung, die an die Hersteller gestellt würden, seien diese auch verpflichtet, dem individuellen Käufer eines Fahrzeugs eine Übereinstimmungsbescheinigung – also eine Bescheinigung darüber, dass das Fahrzeug der EG-Typgengenehmigung entspricht – auszuhändigen (Rn. 78).
Wenn ein individueller Käufer ein Fahrzeug erwerbe, das zur Serie eines genehmigten Fahrzeugtyps gehöre und somit mit einer Übereinstimmungsbescheinigung versehen sei, könne er vernünftigerweise erwarten, dass die Verordnung Nr. 715/2007 und insbesondere deren Art. 5 bei diesem Fahrzeug eingehalten werde. Hieraus folge eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Automobilhersteller und dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs. Da der Hersteller eines Fahrzeugs bei der Aushändigung der Übereinstimmungsbescheinigung an den individuellen Käufer des Fahrzeugs für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme dieses Fahrzeugs die sich auch aus Art. 5 der Verordnung Nr. 715/2007 ergebenden Anforderungen beachten müsse, ermögliche diese Bescheinigung insbesondere, den Käufer davor zu schützen, dass der Hersteller seine Pflicht, im Einklang mit dieser Bestimmung stehende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, nicht einhält (Rn. 81 f.).
Eine nach Erteilung der EG-Typengenehmigung entdeckte Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung, mit der ein Kraftfahrzeug ausgerüstet sei, könne diese und die Übereinstimmungserklärung jedoch infrage stellen (Rn. 84).
Da diese Unzulässigkeit beim Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüsteten Fahrzeugs zu einem Schaden führen könne, folgert der EuGH, dass die Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Rahmenrichtlinie i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 neben allgemeinen Rechtsgütern auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützen (Rn. 85).


C.
Kontext der Entscheidung
Der EuGH dürfte mit seiner Entscheidung klarstellen, dass die bisherige Auffassung des BGH (vgl. nur BGH, Urt. v. 16.09.2021 - VII ZR 190/20 - NJW 2021, 3721 Rn. 36) und der meisten Oberlandesgerichte (vgl. nur OLG München, Beschl. v. 01.07.2022 - 8 U 1671/22 Rn. 24 ff.; OLG Naumburg, Urt. v. 30.06.2022 - 4 U 36/22 Rn. 12 ff.; OLG Schleswig, Beschl. v. 18.07.2022 - 7 U 198/21 Rn. 44 ff.), aus der unionsrechtswidrigen Verwendung einer Abschalteinrichtung zur Vermeidung der Abgasrückführung folge mangels des Individualschutzes der einschlägigen europäischen Normen kein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB, mit den bisherigen Begründungsmustern nicht mehr haltbar ist.
Damit ist wohl auch die bisherige höchstrichterliche Auffassung, Ansprüche gegen einen eine unzulässige Abschalteinrichtung verwendenden Autohersteller kämen allein unter den Voraussetzungen des § 826 BGB in Betracht, überholt.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des EuGH dürfte massive Auswirkungen haben.
Viele Millionen Dieselfahrzeuge auf deutschen Straßen sind mit entsprechenden Abschalteinrichtungen ausgestattet. Soweit es sich hierbei um nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtungen handelt, könnte vielen Fahrern nun ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Unionsrecht zur Seite stehen. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass mit dem, freilich nicht rechtskräftigen Urteil des VG Schleswig (Urt. v. 20.11.2019 - 3 A 113/18) die Stilllegung vieler Diesel-Fahrzeuge im Raum steht.
Diese Gefahr hat das hiesige Urteil des EuGH nochmals „befeuert“. Er formuliert nämlich (Rn. 83, 90):
„Ferner sah Art. 30 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie vor, dass ein Mitgliedstaat, der eine EG-Typgenehmigung erteilt hat, wenn er eine fehlende Übereinstimmung mit dem Fahrzeugtyp, für den er die Genehmigung erteilt hat, feststellt, die notwendigen Maßnahmen, einschließlich erforderlichenfalls eines Entzugs der Typgenehmigung, ergreift, um sicherzustellen, dass die Fahrzeuge mit dem jeweils genehmigten Typ in Übereinstimmung gebracht werden.
[…]
Des Weiteren ist es, wie bereits im Wesentlichen in Rn. 80 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, nach Art. 46 der Rahmenrichtlinie Sache der Mitgliedstaaten, die Sanktionen festzulegen, die im Fall der Nichtbeachtung der Richtlinienbestimmungen anwendbar sind. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Darüber hinaus legen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2007 für Verstöße gegen die Vorschriften dieser Verordnung Sanktionen fest. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der Europäische Gerichtshof formuliert ebenfalls, nationale Rechtsvorschriften, die es dem Käufer eines Kraftfahrzeugs praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten, einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, der ihm durch den Verstoß des Herstellers dieses Fahrzeugs gegen das in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 enthaltene Verbot entstanden sei, stünden nicht mit dem Grundsatz der Effektivität in Einklang (Rn. 93). Damit könnte die bisherige Rechtsprechung zur Anrechnung einer Nutzungsentschädigung der Käufer zugunsten der Automobilhersteller (vgl. BGH, Urt. v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19 - BGHZ 225, 316 Rn. 64 ff.), die dazu führt, dass schon bei einer Kilometerleistung des betreffenden Fahrzeugs von über 250.000 km ein Schadensersatzanspruch in jedem Fall nicht mehr gegeben ist, so ebenfalls nicht mehr haltbar sein. Des Weiteren könnte die EuGH-Entscheidung mit Blick auf eine etwaige Verjährung der Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Unionsrecht an Bedeutung gewinnen.
Denn nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 10.06.2021 - C-776/19 bis C-782/19 - WM 2021, 1882 Rn. 46 m.w.N.) kann eine Verjährungsfrist nur dann mit dem maßgeblichen Effektivitätsgrundsatz vereinbar sein, wenn der Verbraucher die Möglichkeit hatte, von seinen Rechten Kenntnis zu nehmen, bevor die Frist zu laufen beginnt oder abgelaufen ist.
Im „Diesel-Komplex“ hat nicht zuletzt der BGH dafür gesorgt, dass der Verbraucher keine Möglichkeit hatte, von seinem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB Kenntnis zu nehmen. Er lehnte nicht nur den Anspruch als solchen ab, sondern unter Verweis auf einen acte clair auch eine Vorlage an den EuGH (BGH, Urt. v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19 - BGHZ 225, 316 Rn. 17; BGH, Urt. v. 16.09.2021 - VII ZR 190/20 - NJW 2021, 3721 Rn. 37).
Mit der Frage der Verjährung wird sich der BGH daher in der Zukunft zwangsläufig beschäftigen müssen. Bisher vertritt er die Auffassung, Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Unionsrecht würden einheitlich mit solchen aus § 826 BGB verjähren. Beide Ansprüche knüpften an denselben Lebenssachverhalt an (vgl. BGH, Urt. v. 13.06.2022 - VIa ZR 680/21 Rn. 26; vgl. auch BGH, Beschl. v. 06.03.2023 - VIa ZR 1428/22).
Der EuGH knüpft in seiner Entscheidung den Schadensersatzanspruch jedoch an die Übergabe der Übereinstimmungserklärung. Für den Beginn der Verjährung könnte es daher maßgeblich darauf ankommen, wann die Überreinstimmungserklärung übergeben wurde.
Sollte einem Fahrzeugkäufer etwa wegen eines Softwareupdates, welches einer eigenen EG-Typengenehmigung bedarf (vgl. EuGH, Urt. v. 14.07.2022 - C-145/20 - MDR 2022, 1018 Rn. 56), eine neue Übereinstimmungserklärung übergeben worden sein, dürfte dies ein neuer Anknüpfungspunkt für die Verjährung sein.
Eine erneute Vorlage an den EuGH ist nicht ausgeschlossen.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!