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Anmerkung zu:BGH 7. Zivilsenat, Urteil vom 19.01.2023 - VII ZR 34/20
Autor:Prof. Karl Heinrich Schonebeck, RA und FA für Bau-und Architektenrecht
Erscheinungsdatum:09.05.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 640 BGB, § 305c BGB, § 314 BGB, § 648a BGB, § 307 BGB, § 310 BGB
Fundstelle:jurisPR-PrivBauR 5/2023 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Bernd Siebert, RA und FA für Bau- und Architektenrecht
Zitiervorschlag:Schonebeck, jurisPR-PrivBauR 5/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

§ 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) ist bei isolierter Inhaltskontrolle unwirksam



Leitsatz

Ist die VOB/B nicht als Ganzes vereinbart worden, hält § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) ebenso wie die hierauf rückbezogene Bestimmung in § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) bei Verwendung durch den Auftraggeber der Inhaltskontrolle nicht stand. Die Kündigungsregelung in § 4 Nr. 7 Satz 3 i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) benachteiligt den Auftragnehmer unangemessen i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB und ist daher unwirksam



A.
Problemstellung
In der Rechtsprechung und baurechtlichen Literatur ist seit langem umstritten, ob es dem Auftraggeber gestattet ist, vor der Abnahme Mängelrechte geltend zu machen. Für den BGB-Bau- und Werkvertrag hat der BGH dieses bislang durchgehend verneint. Im VOB-Vertrag gibt § 4 Nr. 7 VOB/B dem Auftraggeber die Möglichkeit, mangelhafte oder vertragswidrige Leistungen auch vor der Abnahme zu rügen und deren Beseitigung zu verlangen.
Jetzt hatte der BGH Gelegenheit, sich mit der AGB-rechtlichen Wirksamkeit des § 4 Nr. 7 VOB/B auseinanderzusetzen. Im Ergebnis lässt der BGH danach die Geltendmachung von Mängelrechten vor der Abnahme im VOB-Vertrag nur unter der Voraussetzung zu, dass die VOB/B gemäß § 310 Abs. 1 Satz 3 BGB ohne inhaltliche Abweichungen insgesamt wirksam vereinbart ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Hauptauftragnehmerin (AG) beauftragt die AN als Nachunternehmerin im Oktober 2004 mit der Ausführung von Straßen- und Tiefbauarbeiten zum Ausbau einer Stadtbahnlinie unter Einbeziehung der VOB/B in der zum Vertragsschluss geltenden Fassung mit einer Auftragssumme von ca. 3 Mio. Euro. Dabei wurde die VOB/B durch vorrangig geltende Vertragsbedingungen inhaltlich modifiziert, indem u.a. der Anspruch auf Abschlagszahlungen auf 90% der nachgewiesenen Leistungen beschränkt wurde.
Während der laufenden Bauausführung, also vor der Abnahme, rügte die AG, dass der von der AN eingebaute Beton die vertraglich geschuldete Festigkeitsklasse nicht erreicht habe und setzte der AN nach § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B eine Frist zur Beseitigung des gerügten Mangels mit der Erklärung, dass der Vertrag nach fruchtlosem Ablauf der Frist gekündigt werde. Da die AN den Mangel, dessen Beseitigung einen Kostenaufwand von ca. 6.000 Euro verursacht hätte, nicht fristgerecht beseitigte, kündigte die AG den Vertrag aus wichtigem Grund gemäß § 8 Nr. 3 Abs. 1 VOB/B i.V.m. § 4 Nr. 7 VOB/B.
Die AN klagt danach Restwerklohn i.H.v. ca. 2,5 Mio. Euro ein, während die AG sich mit Ersatzvornahmemehrkosten i.H.v. über 4 Mio. Euro durch Aufrechnung und Widerklage verteidigt. Nachdem das Landgericht die ausgesprochene Kündigung noch als eine freie Kündigung nach § 8 Nr. 1 VOB/B qualifiziert und demgemäß die Widerklage abgewiesen hat, hat das Oberlandesgericht die Kündigung als eine nach § 8 Nr. 3 Abs. 1 VOB/B eingeordnet und die geltend gemachte Widerklage dem Grunde nach als begründet bewertet.
Der BGH wiederum hält die von der AN eingelegte Revision für begründet und verweist den Rechtsstreit nach Aufhebung der angefochtenen OLG-Entscheidung zur weiteren Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück.
Begründet hat der BGH das damit, dass bei einer isolierten Inhaltskontrolle die Kündigungsregelung in § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) unwirksam ist, da sie den AN unangemessen i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB benachteiligt. Diese Unwirksamkeit erfasst auch § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002), da diese Regelung nicht selbst einen Kündigungsgrund enthält, sondern sich auf die in § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) genannten Voraussetzungen bezieht. § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) ist mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung – zu der auch ungeschriebenes (Richter-)Recht gehört – zu den Voraussetzungen einer Kündigung eines Werkvertrags aus wichtigem Grund, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren, so dass diese Klauseln den AN unangemessen benachteiligen. Nach der im Zweifel vorzunehmenden „kundenfeindlichsten Auslegung“ kann der AG nach diesen AGB dem AN den Auftrag entziehen, wenn eine mangelhafte oder vertragswidrige Leistung in der Ausführungsphase aufgetreten ist, die der AN trotz Fristsetzung und Kündigungsandrohung nicht beseitigt hat. Die Sanktion der Kündigung aus wichtigem Grund kann danach einschränkungslos in jedem denkbaren Fall festgestellter Vertragswidrigkeit oder Mangelhaftigkeit ausgesprochen werden. Die Möglichkeit zur Vertragskündigung besteht also losgelöst davon, welches Gewicht der Vertragswidrigkeit oder dem Mangel im Hinblick auf die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses zukommt. Zudem differenzieren die unwirksamen Klauseln nicht nach der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere oder den Auswirkungen der Vertragswidrigkeit bzw. des Mangels, so dass selbst unwesentliche Mängel, die den AG nach § 640 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht einmal zur Verweigerung der Abnahme berechtigen würden, zur Kündigung aus wichtigem Grund führen können. Selbst bei einem anderen Klauselverständnis, wonach ein AG dem AN den Auftrag nur bei Vertragswidrigkeit oder Mängeln entziehen darf, welche so gewichtig sind, dass dem AG die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht zugemutet werden kann, wäre aufgrund der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB zur Angemessenheitsprüfung nach § 307 Abs. 1, 2 BGB gleichwohl die Auslegung zugrunde zu legen, wonach die Kündigung als Reaktion auch auf eine nur geringfügige, unbedeutende oder unwesentliche Vertragswidrigkeit oder Mangelhaftigkeit in der Ausführungsphase möglich ist. Nach richterrechtlich aus dem Rechtsgedanken des § 314 BGB entwickelten Grundsätzen – bzw. aktuell nach § 648a BGB – ist eine Voraussetzung einer Kündigung aus wichtigem Grund, dass der AN durch ein den Vertragszweck gefährdendes Verhalten die vertragliche Vertrauensgrundlage zum AG derart erschüttert hat, dass diesem unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Danach kann eine vertragswidrige oder mangelhafte Werkleistung in der Ausführungsphase nur dann ein wichtiger Kündigungsgrund sein, wenn weitere Umstände hinzutreten, die die Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung für den AG begründen. Ein berechtigtes Interesse des AG, die Fertigstellung durch den AN nicht mehr abwarten zu müssen, kann etwa aus der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere und den Auswirkungen der Vertragswidrigkeit bzw. des Mangels folgen. Da der AG mit der beanstandeten Kündigungsregelung die Kündigung losgelöst von den genannten Kriterien bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs selbst bei Geringfügigkeit der Vertragswidrigkeit oder des Mangels während der Ausführungsphase aussprechen kann, weicht § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) nach dem maßgeblichen Klauselverständnis von den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung bzw. des Richterrechts ab. Diese Abweichung benachteiligt den AN unangemessen nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, so dass diese Klauseln unwirksam sind.


C.
Kontext der Entscheidung
Der BGH widerspricht der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts, dass der Entfall der AGB-rechtlichen Privilegierung der VOB/B gemäß § 310 Abs. 1 Satz 3 BGB erst anzunehmen ist, wenn eine substantielle Änderung der VOB/B durch den Verwender, vorliegend also durch die AG, erfolgt ist. Vielmehr reicht jede vertragliche Abweichung vom Regelungsgehalt der VOB/B aus, um die VOB/B nicht mehr als Ganzes zu vereinbaren. Dieses gilt unabhängig von dem Gewicht des Eingriffs. Demgemäß ist die Inhaltskontrolle für einzelne Regelungen der VOB/B auch eröffnet, wenn nur geringfügige inhaltliche Abweichungen von der VOB/B festgestellt werden können.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Durch diese Entscheidung wird einer in der Bauwirtschaft seit Jahrzehnten geübten Praxis, Ansprüche auf Mangelbeseitigung vor der Abnahme der Bauleistung notfalls mit einer Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 4 Abs. 7 VOB/B zur Kostenlast des AN durchzusetzen, die rechtliche Grundlage entzogen. Eine Kündigung aus wichtigem Grund dürfte zukünftig in den Fällen unterbliebener Mängelbeseitigung nur noch möglich sein, wenn im Bauvertrag weitere Voraussetzungen, insbesondere zur Schwere des mit der Verweigerung der Mängelbeseitigung verbundenen Vertragsverstoßes, für eine Kündigung aus wichtigem Grund formuliert werden.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der BGH stellt klar, dass sich die Unwirksamkeit der ersten in § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 VOB/B (2002) geregelten Variante nicht auch auf die übrigen, dort in Bezug genommenen Kündigungstatbestände bezieht, da diese erste Variante mit der Bezugnahme auf den Kündigungsgrund des § 4 Nr. 7 VOB/B (2002) entfallen kann, ohne dass die Klausel des § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 VOB/B (2002) insgesamt ihren Sinn einbüßt.
Demgemäß wurde der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht mit der Maßgabe zurückgegeben, mögliche in Betracht kommende weitere Kündigungsgründe, die eine Kündigung des Vertrages aus wichtigem Grund rechtfertigen könnten, zu prüfen.



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