Anforderungen an die Festsetzung eines urbanen Gebietes: „urbaner“ Charakter des Gebietes nicht erforderlichLeitsätze 1. Der in § 6a Abs. 1 BauNVO niedergelegten Zweckbestimmung des Urbanen Gebiets sind auch im Wege der Auslegung keine Tatbestandsmerkmale zu entnehmen, die auf das Erfordernis eines urbanen Charakters des festgesetzten Gebiets (etwa hinsichtlich Gemeindegröße, Verdichtung des Gebiets, Vorhandenseins von Einzelhandel und Gastronomie) hinauslaufen. 2. Zur Abwägungserheblichkeit des Interesses am Erhalt eines bereits reduzierten Freiraums in den rückwärtigen Grundstücksbereichen. - A.
Problemstellung Welche Anforderungen muss ein Gebiet erfüllen, um es als urbanes Gebiet nach § 6a BauNVO in einem Bebauungsplan festsetzen zu können? Umstritten und bislang nicht abschließend geklärt ist insoweit vor allem die Frage, ob der in § 6a Abs. 1 BauNVO niedergelegten Zweckbestimmung des urbanen Gebietes im Wege der Auslegung ein weiteres Tatbestandsmerkmal hinzuzufügen ist. Nämlich die Anforderung, dass das festgesetzte Gebiet einen „urbanen“, also „städtischen“ Charakter (z.B. hinsichtlich Gemeindegröße, Verdichtung des Gebietes, Vorhandensein von Einzelhandel und Gastronomie) aufweisen muss oder dass zumindest die Planungsabsicht besteht, ein solches innerstädtisches Gebiet zu schaffen. Dieser Rechtsfrage widmet sich das OVG Lüneburg und verneint sie.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung In einem Normenkontrollverfahren hat sich ein Grundstückseigentümer eines Wohngrundstücks gegen einen Bebauungsplan gewandt, der u.a. die Festsetzung eines urbanen Gebietes enthält. Die betroffene Gemeinde verfügt über ca. 2.500 Einwohner und eine Bevölkerungsdichte von ca. 620 Einwohnern/km². Der vom Bebauungsplan überplante Bereich zeichnet sich durch überwiegend Wohnzwecken dienende Einzel- und Doppelhäuser aus, die durch geräumige Vorgärten von der Straße getrennt sind (östlich und westlich der H.-Straße). Eingestreut in diese Bebauung sind einige größere Gewerbegrundstücke (Sanitärbetrieb, Elektrikerbetrieb, Autohandel, Installation und Wartung von Schiffsmotoren, Hundesalon, Einrichtung zur Kinder-/Jugendbetreuung) (westlich der H.-Straße). Der Bebauungsplan setzt die Grundstücke westlich der H. -Straße als urbanes Gebiet, die Grundstücke westlich (sowie einige Grundstücke östlich) der I.-Straße (Parallelstraße zur H.-Straße) als allgemeines Wohngebiet fest. Im urbanen Gebiet werden Anlagen für sportliche Zwecke, Vergnügungsstätten und Tankstellen und Einzelhandelsnutzungen mit „nichtzentrenrelevanten“ Sortimenten grundsätzlich ausgeschlossen. Letztere sind nur unter einschränkenden Voraussetzungen zulässig. Das OVG Lüneburg hat den Antrag als unbegründet abgewiesen, da der angegriffene Bebauungsplan, insbesondere die Festsetzung eines urbanen Gebiets, rechtmäßig sei. Die überplante Fläche habe den Anforderungen nach § 6a BauNVO genügt. Schon die fünf im Plangebiet vorhandenen Gewerbebetriebe zusammen hätten ein hinreichendes städtebauliches Gewicht und seien zahlenmäßig neben den gut 15 Wohnhäusern nicht unbedeutend. Mit dem Kinder- und Jugendschutzhaus sei zudem eine soziale Einrichtung vorhanden. Im Übrigen bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Ansiedlung von sozialen, kulturellen oder sonstigen Einrichtungen auf der Grundlage des Plans unmöglich oder nicht gewollt wäre. Allein das habe ausgereicht, um die Voraussetzungen der Gebietskategorie zu erfüllen. Zwar sei nicht zu verkennen, dass das Plangebiet weder gegenwärtig einen im landläufigen Sinne „urbanen“ Charakter aufweise noch die in der Planbegründung dargelegten Entwicklungsabsichten des Rats der Antragsgegnerin auf eine Veränderung hin zu einem solchen Charakter abzielten oder die planerischen Festsetzungen (z.B. Ausschluss Einzelhandelsnutzungen/Tankstellen/Sportanlagen, Vorgaben zum Maß der baulichen Nutzung zum Erhalt einer aufgelockerten Wohnbebauung) einen solchen auch nur erlaubten. Der in § 6a Abs. 1 BauNVO niedergelegten Zweckbestimmung seien aber keine Tatbestandsmerkmale zu entnehmen, die auf das Erfordernis eines „urbanen“ Charakters des festgesetzten Gebiets hinausliefen. Zutreffend sei zudem, dass der Verordnungsgeber das urbane Gebiet als Antwort auf eine Problematik geschaffen habe, die sich typischerweise in den dichtbesiedelten Stadtteilen von größeren Städten finde: die fehlende Möglichkeit der bestandsorientierten Überplanung einer Nutzungsmischung auf engem Raum, die aufgrund der geltenden Dichtevorgaben, von Lärmschutzansprüchen und/oder der Anforderung der jeweiligen Zweckbestimmung an das relative Gewicht von Wohnen einerseits und Gewerbe andererseits mit den Festsetzungsinstrumenten des Allgemeinen Wohngebiets, des Mischgebiets und des Kerngebiets nicht erreicht werden könne. Auch wenn für die Einführung der neuen Gebietskategorie die städtebauliche Konstellation anlassgebend war, bedeute das aber nicht, dass dies auch begrenzend Eingang in die Zweckbestimmung des urbanen Gebietes habe finden sollen. Die Entstehungsgeschichte der Norm deute eher auf das Fehlen einer den „urbanen“ Charakter des überplanten Gebiets sichernden Zweckbestimmung hin. Bestrebungen in einem Frühstadium des Gesetzgebungsverfahrens, das Rechtsinstrument auf bebaute Gebiete zu beschränken und es Gemeinden mit einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl und -dichte vorzubehalten, seien nicht weiterverfolgt worden. Ferner spreche die Gesetzessystematik nicht für die Annahme des Bestehens ungeschriebener einschränkender Tatbestandsmerkmale zum Gebietscharakter: Namentlich beim Kerngebiet habe der Verordnungsgeber die gegenüber dem Mischgebiet spezifischere Zweckbestimmung klar zum Ausdruck gebracht und es damit nicht dem Normanwender überlassen, allein aus der Gebietsbezeichnung und der Entstehungsgeschichte im Wege der ergänzenden Auslegung den Gebietstyp herauszuarbeiten. Das spreche dagegen, im diesbezüglichen Schweigen des § 6a Abs. 1 BauNVO eine nicht beabsichtigte Regelungslücke zu sehen, die das Einfügen ungeschriebener Tatbestandsmerkmale erforderte. Die in § 17 BauNVO festgelegten deutlich erhöhten Orientierungswerte für urbane Gebiete seien ebenfalls kein schlüssiges Indiz für eine gesetzgeberische Absicht, die Festsetzungsmöglichkeit des § 6a BauNVO auf als verdichtet konzipierte Gebiete zu beschränken. Sie seien lediglich (flexible) Obergrenzen der Verdichtung, wie sie zur Bewältigung des „Hauptanwendungsfalls“ des § 6a BauNVO erforderlich seien. Untergrenzen, die die Nutzung der mit dem Baugebietstypus intendierten Flexibilisierung des Mischungsverhältnisses zwischen Wohnen und Gewerbe auch für geplante Gebiete geringerer Siedlungsdichte ausschlössen, enthalte § 17 BauNVO nicht. Die Annahme, die Zweckbestimmung des urbanen Gebiets sei nur gewahrt, wenn dieses einen im landläufigen Sinne „urbanen“ Charakter aufweise, sei auch deshalb abzulehnen, weil die Definition der hierfür erforderlichen Tatbestandsmerkmale ohne hinreichende Anhaltspunkte im Verordnungswortlaut auf Schwierigkeiten stoße, die die Bestimmtheit der so ausgelegten Norm in Frage stellen und auch mit Blick auf den an den Gesetzgeber gerichteten Regelungsauftrag des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten dürften.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Gebietskategorie der „urbanen Gebiete“ ist eine vergleichsweise junge Baugebietsart. Sie wurde erst mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und zur Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt vom 04.05.2017 (BGBl I 2017, 1057) erstmalig eingeführt. Mit dieser neuen Baugebietskategorie sollte der Wohnungsbau erleichtert und den „Kommunen – zur Erleichterung des Planens und Bauens in innerstädtischen Gebieten – ein Instrument zur Verfügung gestellt werden, mit dem sie planerisch die nutzungsgemischte Stadt der kurzen Wege verwirklichen können. Sie sieht daher – auch zur Vermeidung und Reduzierung von Verkehr und zur Förderung eines lebendigen öffentlichen Raums – eine räumliche Nähe von wichtigen Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Kultur und Erholung vor. Gleichzeitig soll in diesem Gebiet eine stärkere Verdichtung ermöglicht werden“ ( BT-Drs. 18/10942, S. 56). Die größere bauliche Dichte (vgl. § 17 BauNVO) soll die „kurzen Wege“ ermöglichen ( BT-Drs. 18/10942, S. 58). § 6a Abs. 1 BauNVO umschreibt die allgemeine Zweckbestimmung von urbanen Gebieten dementsprechend dahin gehend, dass diese dem Wohnen sowie der Unterbringung von Gewerbebetrieben und sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen, die die Wohnnutzung nicht wesentlich stören, dienen. Dabei muss die Nutzungsmischung – anders als im Mischgebiet – nicht gleichgewichtig sein (§ 6a Abs. 1 Satz 2). Wie auch das Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung darauf hinweist, herrscht angesichts dieser Gesetzeshistorie in der Literatur Einigkeit darüber, dass die urbanen Gebiete insbesondere auf die Überplanung großstädtischer Innenstadtlagen zugeschnitten seien (vgl. etwa Blechschmidt in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauNVO, Stand: November 2024, § 6a Rn. 18; Roeser in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 5. Aufl. 2022, § 6a Rn. 2; Battis/Mitschang/Reidt, NVwZ 2017, 817, 823 f.; Schink, NVwZ 2017, 1641, 1642). Insoweit hat allerdings das BVerwG klargestellt, dass § 6a BauNVO nicht auf die Überplanung innerstädtischer Lagen mit einer bestimmten vorgefundenen (Misch-)Struktur, Gemengelage oder Nutzungsgeschichte beschränkt ist, sondern auch die erstmalige Ausweisung eines entsprechenden Baugebiets und die Festsetzung eines solchen Gebiets am Stadtrand erfasst (BVerwG, Beschl. v. 13.06.2023 - 4 BN 33/22 Rn. 17). Nicht abschließend geklärt ist aber bislang die Frage, ob zumindest der Wille zur Schaffung einer solch „innerstädtischen“ Lage Voraussetzung für die Festsetzung eines urbanen Gebietes ist. § 6a BauNVO fordert eine solch innerstädtische Lage oder das entsprechende Planungsziel zur Schaffung einer solchen nicht ausdrücklich, so dass ein solches Erfordernis nur im Wege der Auslegung hergeleitet werden könnte. Bisher sind lediglich vereinzelte obergerichtliche Entscheidungen ergangen, die unabhängig vom Vorliegen der in § 6a Abs. 1 BauNVO vorausgesetzten Nutzungsmischung eine Verfehlung der Zweckbestimmung eines urbanen Gebietes bejaht oder das Erfordernis eines engeren Gebietscharakters zumindest angedeutet haben. Der VGH München (Beschl. v. 28.10.2019 - 1 CS 19.1882 Rn. 6) führt hierzu zwar zunächst aus, dass der Anwendungsbereich des § 6a BauNVO nicht auf größere Kommunen beschränkt sei (so auch Blechschmidt in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauNVO, § 6a Rn. 18). Dies finde weder im Wortlaut noch in der Gesetzesbegründung oder Entstehungsgeschichte der Vorschrift eine Stütze. Gleichzeitig weist das Gericht aber darauf hin, dass aus tatsächlichen Gründen die Festsetzung in kleineren und mittleren Kommunen nur ausnahmsweise in Betracht komme, was in diesem Fall aus dem Fehlen einer städtischen Struktur bzw. einer städtischen Gemengelage und einem auf die Schaffung urbaner Strukturen bezogenen Planungswillen resultiere. Damit lässt der VGH München in einem Nebensatz erkennen, dass er wohl von dem Vorliegen eines „städtischen“ Charakters als Voraussetzung ausgeht, ohne hierauf näher einzugehen. Das OVG Greifswald (Urt. v. 27.02.2024 - 3 K 543/21 OVG Rn. 91 f.) hat – im Gegensatz zum VGH München – bereits aufgrund der Gemeindegröße (5.500 Einwohner) Zweifel an der Festsetzung eines urbanen Gebiets geäußert. Weitere Bedenken hat das Gericht – im Widerspruch zum mittlerweile ergangenen Beschluss des BVerwG vom 13.06.2023 (4 BN 33/22 Rn. 17) – im Hinblick auf die Lage des Plangebietes, am Rand der Gemeinde. Offensichtlich ist das Gericht der Meinung, dass es sich in einem solchen Fall um einen „Etikettenschwindel“ handle und die Planungsabsicht, eine nutzungsgemischte „Stadt der kurzen Wege“ zu schaffen, wie es dem Leitbild des urbanen Gebiets entspreche, Voraussetzung für ein solches sei. Insoweit bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung in diesem Punkt weiterentwickelt.
- D.
Auswirkungen für die Praxis In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist bislang nicht sicher geklärt, ob die Festsetzung eines urbanen Gebiets – über die in § 6a BauNVO ausdrücklich niedergelegten Voraussetzungen hinaus – ein weiteres ungeschriebenes Merkmal des „urbanen“ Charakters des Gebietes verlangt. Bislang wurde dieser Frage in der Rechtsprechung zudem noch nicht verbreitet nachgegangen. Insoweit besteht daher für kleinere Gemeinden bzw. entsprechende Plangebiete, die sich von ihrem Charakter und ihrer Größe nicht ohne Weiteres diesem Merkmal zuordnen lassen, ein Risiko bei der Ausweisung neuer urbaner Gebiete. Den Gemeinden ist daher angeraten, bei Plangebieten, die keinen „städtischen“ Charakter aufweisen, zunächst zu prüfen, ob für die Planungsziele tatsächlich auf die Festsetzung eines urbanen Gebietes zurückgegriffen werden muss, oder ob sich die Ziele nicht vielmehr auch mit den Möglichkeiten z.B. eines Mischgebietes im konkreten Fall erreichen lassen.
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