Verwertbarkeit von Informationen aus EncroChat-Daten im StrafverfahrenOrientierungssatz zur Anmerkung Die EncroChat-Daten stehen für eine Überzeugungsbildung nicht zur Verfügung […], weil sie einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Dies folgt zum einen aus Verstößen gegen rechtshilferechtliche Bestimmungen der RL EEA durch französische und deutsche Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der Erhebung und Übermittlung von EncroChat-Daten nach Deutschland im Frühjahr 2020. Die Verfahrensverstöße führen - ungeachtet der dem Angeklagten zur Last gelegten schweren Straftaten - im Rahmen der gebotenen umfassenden Abwägung jeweils bereits für sich genommen, jedenfalls aber in einer Zusammenschau, zur Unverwertbarkeit der Daten. Angesichts der erheblichen Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte durch die Vorenthaltung von Informationen zu technischen und Verfahrensfragen gebietet auch das Recht auf ein faires Verfahren - sowohl nach deutschem als auch nach europäischem Recht -, die EncroChat-Daten nicht zu verwerten. - A.
Problemstellung Seit die Daten des Kommunikationsdiensteanbieters EncroChat auf Grundlage der Europäischen Ermittlungsanordnung („EEA“) vom 02.06.2020 der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. („GenStA“) durch die französischen Behörden übermittelt wurden, wird über deren Verwertbarkeit in nationalen Strafverfahren gestritten. Während sich in der Literatur die überwiegenden Stimmen für ein Beweisverwertungsverbot aussprechen, hielt die Rechtsprechung bis hin zum BGH und BVerfG bisher dagegen. Das LG Berlin I erklärte am 19.12.2024 dennoch sämtliche EncroChat-Daten für unverwertbar. Hierfür gibt es in erster Linie zwei Gründe: Zum einen antwortet der EuGH mit Urteil vom 30.04.2024 (C-670/22; „EuGH, EncroChat“) auf das Vorabentscheidungsersuchen des LG und stärkte hierbei den Stimmen, die für einen stärkeren europäischen Individualschutz und ein nationales Beweisverwertungsverbot argumentierten, zumindest in Teilen den Rücken. Zum anderen lagen dem LG neue Erkenntnisse zur Eurojust-Konferenz am 09.03.2020 vor, die einen von den bisherigen Feststellungen abweichenden Sachverhalt zeichnen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Gegenstand des Verfahrens vor dem LG waren „18 Fälle des Handeltreibens mit und des Besitzes von Kokain und Cannabis“ (Rn. 1). Eine anklagegemäße Verurteilung erfolgte nur in einem – für den Eigenkonsum bestimmten – Fall. Der Anklagevorwurf basierte fast ausschließlich auf EncroChat-Daten. Die Hintergründe zu den Strafverfahren, die auf den von französischen Strafverfolgungsbehörden erhobenen und übermittelten EncroChat-Daten aufbauen, sind bereits hinreichend diskutiert worden (vgl. nur Meyer, GSZ 2024, 243; Lenk, EuR 2024, 51; Sommer, StraFo 2023, 250; Petersen, StV 2022, 679; Wahl, ZIS 2021, 452; Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449) und seien daher – entlang der Feststellungen des LG – nur in Erinnerung gerufen: Das Unternehmen EncroChat bot ab 2016 Hard- und Software für eine Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation an. Die Server standen in Rubaix, Frankreich (Rn. 76). Die Dienste wurden aufgrund ihrer vermeintlichen Sicherheit zunehmend bei der Begehung von Straftaten genutzt (Rn. 76). Da die EncroChat-Nutzer in 122 Ländern tätig waren, kam es ab 2018 zur Einrichtung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe, die durch Europol koordiniert und unterstützt wurde (Rn. 79 f.). Mithilfe eines Trojaners erlangten die französischen Behörden vom 01.04. bis zum 28.06.2020 einen umfassende Datenzugriff auf die EncroChat-Daten sowie auf die noch laufende Kommunikation (Rn. 78, 86 ff., 104). Die Maßnahme, deren Rechtsgrundlage sich in Art. 706-102-1 der französischen Strafprozessordnung (CPP) findet (Rn. 107), hatte damit unmittelbare Auswirkung auf eine Vielzahl von Personen, die sich in unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Union aufhielten. Der Ermittlungsmaßnahme gingen Beschlüsse französischer Gerichte voraus (Rn. 120 ff.). Anders als nach deutschem Recht war für die französische „Voruntersuchung gemäß Art. 75 ff. CPP“ kein konkreter Tatverdacht gegen eine bestimmte Person erforderlich (Rn. 121). Eine Unterrichtung der territorial betroffenen Mitgliedstaaten erfolgte nicht (Rn. 137). Nach vollständiger Erhebung der Daten, wurden die verfügbaren Daten auf Grundlage einer EEA der GenStA den deutschen Strafverfolgungsbehörden für die unbeschränkte Verwendung zur Verfügung gestellt (Rn. 83). Die genaue technische Ausleitung, Übermittlung und Sortierung der Daten ist heute nicht mehr nachvollziehbar (Rn. 110 ff.). Das LG geht weiter davon aus, dass bereits vor dem Datenabruf klar gewesen sei, dass der Großteil der EncroChat-Nutzer keinen Bezug zu Frankreich habe (Rn. 81) und das französische Interesse an den Ermittlungen daher ungleich geringer gewesen wäre (Rn. 97; „europäisches Projekt“, Rn. 92). Zum Zeitpunkt der Einleitung des deutschen Ermittlungsverfahrens im März 2020 hätten keine konkreten Anhaltspunkte für die Nutzung der EncroChat-Telefone ausschließlich oder ganz überwiegend für kriminelle Zwecke vorgelegen (Rn. 141 f.). Trotzdem seien die französischen Ermittlungen durch andere Mitgliedstaaten indiziert worden und – trotz der Kenntnis der eigenen Betroffenheit – eine Unterrichtung „bewusst unterlassen“ (!) worden (Rn. 175). Man sei auch nicht davon ausgegangen, dass anderweitige formelle Benachrichtigungen die Unterrichtung hätten ersetzen können (Rn. 177). Es sei insbesondere auch ausgeschlossen, dass übersehen worden sei, dass durch den Zugriff auch Endgeräte auf deutschem Staatsgebiet betroffen sein werden (Rn. 169). Vielmehr sei den deutschen Behörden klar gewesen, dass die Voraussetzungen der §§ 100a, 100b StPO nicht vorgelegen hätten, sodass ein gem. § 91g Abs. 6 IRG i.V.m. Art. 31 Abs. 3 Rl-EEA betrautes Gericht der Maßnahme zwingend hätte widersprechen müssen (Rn. 180). Die Durchführung der heimlichen Ermittlungsmaßnahmen seien im Übrigen geheim gehalten worden, sodass später befasste Gerichte von einer „spontanen“ Übermittlung ausgegangen seien, was auch für den Beschluss des BGH vom 02.03.2022 (5 StR 457/21, „BGH, Beschl.“) gelte (Rn. 195). Die neuen Erkenntnisse ergäben sich aus den Protokollen der Europol- und Eurojust-Konferenzen und dem nachfolgenden SIENA-Schriftverkehr, die den Verteidigern bekannt geworden sei (Rn. 176; 196). Das LG stützt die Unverwertbarkeit auf drei Gründe: I. Individualschützender Charakter der Art. 31 und 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA Das LG stellt fest, dass entlang der ständigen Rechtsprechung ein Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen anzunehmen sei, weil es zu einem schwerwiegenden Rechtsverstoß gekommen sei, bei dem grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen wurden (vgl. Rn. 199). Hierfür legt das LG – entlang der EncroChat-Entscheidung des EuGH – zunächst dar, dass die französischen Behörden nach Art. 31 Rl-EEA die deutschen Behörden hätten unterrichten müssen und dass hiervon bewusst (!) abgesehen worden sei (Rn. 203 ff.). Hierbei weist das LG insbesondere daraufhin, dass es die Pflicht deutscher Behörden gewesen wäre, bei den gemeinsamen Ermittlungen auf eine Unterrichtung hinzuwirken oder selbst eine gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen (Rn. 214). Aufgrund des individualschützenden Charakters der Unterrichtungspflicht (EncroChat, Rn. 124; abweichend von BGH, Beschl., Rn. 41), die der besonderen Eingriffsintensität von TKÜ-Maßnahmen Rechnung trägt und damit auch den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens durchbricht, komme vorliegend ein Beweisverwertungsverbot in Betracht (Rn. 216 ff.; Rn. 227). Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sei ein solches bei TKÜ-Maßnahmen anzunehmen, wenn wesentliche sachliche Voraussetzungen für die Anordnung der Überwachungsmaßnahmen fehlen (Rn. 223). Nach den Feststellungen des LG stehe fest, dass die nach Art. 31 Abs. 3 Rl-EEA i.V.m. § 91 Abs. 6 IRG erforderliche gerichtliche Überprüfung, ob in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall die Voraussetzungen der §§ 100a ff. StPO vorgelegen hätten, nicht nur nicht erfolgt (Rn. 229; so auch schon Lenk, EuR 2024, 51, 71 f.), sondern bewusst vorsätzlich umgangen worden sei, weil den deutschen Behörden klar gewesen sei, dass die Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten (Rn. 244 f). Auch eine hypothetische nachträgliche Überprüfung würde nichts anderes ergeben, da es schon an einem „ausreichenden Tatverdacht“ gefehlt habe (Rn. 234, 239). Die Daten seien daher auch in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht verwertbar (Rn. 240 ff.). Ein Beweisverwertungsverbot ergebe sich ferner auch aus dem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA (Rn. 247), weil dessen Voraussetzungen bei der EEA vom 02.06.2020 nicht erfüllt gewesen seien (Rn. 250). Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA darf eine EEA nur angeordnet werden, wenn die darin „angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) […] in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen [hätten] angeordnet werden können“. Die Rechtmäßigkeit eines solchen Beweismitteltransfers bestimme sich daher nach § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO, der die Verwendung von gem. § 100b StPO erhobenen Daten in anderen Strafverfahren regelt (Rn. 253) . Sie gehe der allgemeinen Verwendungsregelung aus § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO vor (Rn. 255). Es müsse der strengere Maßstab des § 100b StPO herangezogen werden, weil die auf Grundlage der französischen Ermittlungsmaßnahme erhobenen Daten nicht auf Daten, die nach § 100a StPO oder § 100b StPO hätten erhoben werden dürfen, aufgeteilt werden können (Rn. 258 ff.). Mangels eines konkreten Tatverdachts im Verfahren der GenStA und im Ausgangsverfahren seien die Daten auch nicht – wie von § 100e Abs. 6 StPO vorausgesetzt – im (fiktiven) deutschen Ausgangsverfahren verwertbar gewesen (Rn. 6, 269 ff.). Aufgrund des schwerwiegenden Verstoßes seien die Daten im nationalen Strafverfahren unverwertbar (Rn. 276 ff.). II. Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens aufgrund des Informationsdefizits Unabhängig davon folge die Unverwertbarkeit der Chatnachrichten auch aus den in Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 EMRK verankerten Anforderungen an ein faires Verfahren (Rn. 283 ff.), die über Art. 14 Abs. 7 Rl-EEA in Bezug zu nehmen seien (Rn. 289). Durch die umfangreiche Geheimhaltung französischer und deutscher Behörden zu technischen Einzelheiten (Rn. 293 ff.) und Verfahrenstatsachen (Rn. 309 ff.) seien dem Angeklagten Informationen vorenthalten worden, die für die sachgerechte Beurteilung der Chats von zentraler Bedeutung gewesen seien. Dies begründe ein Verwertungsverbot bereits nach deutschem Recht (Rn. 322 ff.) und – nach der Entscheidung des EuGH (EncroChat) – auch unmittelbar aus dem Europarecht (Rn. 317 ff.). Das LG ergänzt schlussendlich, dass – selbst wenn man keinen der Verstöße für sich betrachtet als so schwerwiegend erachtet – jedenfalls eine Gesamtbetrachtung aller Verstöße zu einem Beweisverwertungsverbot führe (Rn. 324 ff.). III. Hilfsweise Verminderung des Beweiswertes aufgrund des Informationsdefizits Hilfsweise sei nach dem LG der Beweiswert der Chatnachrichten durch die mit der Geheimhaltung verbundenen Informationsdefizite so vermindert, dass ein Tatnachweis allein auf die Chats nicht gestützt werden könne (Rn. 328 ff.). Hierfür zieht das LG einerseits die Rspr. des BGH zur Sperrerklärung nicht konfrontierbarer Zeugen vom Hörensagen (Rn. 330) und andererseits die Rspr. des EGMR zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d) EMRK (Rn. 331) heran. Die aufgrund der Geheimhaltung fehlenden Überprüfungsmöglichkeiten u.a. hinsichtlich des ordnungsgemäßen technischen Ablaufs der Datenerhebung sowie der Datenauthentizität und -integrität sei eine Folge staatlichen Handelns und führe dazu, dass die EncroChat-Daten als für die Beweisführung unzuverlässig einzuordnen seien (Rn. 340).
- C.
Kontext der Entscheidung Nach einer Vielzahl instanzgerichtlicher Entscheidungen entschied der BGH mit Beschluss vom 02.03.2022 (5 StR 457/21), dass die EncroChat-Daten grundsätzlich verwertbar seien. Der BGH ging davon aus, dass es auf einen etwaigen individualschützenden Charakter des Art. 31 Rl-EEA nicht ankomme. Das LG war anderer Ansicht und legte unter anderem diese Frage mit Vorabentscheidungsersuchen vom 19.10.2022 ((525 KLs) 279 Js 30/22 (8/22), 525 KLs 8/22) dem EuGH vor. Der EuGH antwortete und stellte fest, dass die Ermittlungsmaßnahme der französischen Behörden eine TKÜ i.S.d. Art. 31 Rl-EEA darstelle (EncroChat, Rn. 119), der Unterrichtungspflicht aus Art. 31 Abs. 1 Rl-EEA individualschützender Charakter zukomme (Rn. 124) und nach Art. 14 Abs. 7 Rl-EEA Informationen und Beweismittel im nationalen Strafverfahren unberücksichtigt bleiben müssten, wenn der Betroffene nicht in der Lage gewesen sei, „sachgerecht zu diesen Informationen und Beweismitteln Stellung zu nehmen, und diese geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen“ (Rn. 131). Das LG weicht im Ergebnis auch von der Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 01.11.2024 - 2 BvR 684/22, „BVerfG, Beschl.“) ab, nach der die Entscheidung des EuGH die vom BGH vertretene Rechtsauffassung unberührt lasse (Rn. 8). Diese Abweichung erklärt sich durch den neu vorgetragenen Sachverhalt zum Ablauf der Ermittlungen.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Das Urteil ist zunächst als klares Bekenntnis zu den Beschuldigtenrechten im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu würdigen. Das LG macht sich nicht nur die Mühe, den Sachverhalt rund um die Ermittlungen noch einmal gründlich aufzuarbeiten, sondern auch, sich – entlang der selbst ersuchten EuGH-Vorabentscheidung – mit der komplexen Frage des Beweisverwertungsverbotes infolge eines (bewussten) Verstoßes gegen Unionsrecht auseinanderzusetzen. Dies ist – unabhängig vom Bestand des Urteils – als Meilenstein für die Beweisrechtshilfe im Unionsraum zu werten. Den ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt, sind die Feststellungen im Ergebnis auch überzeugend. I. Gegenseitige Anerkennung und eingeschränktes Vertrauen Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen nach dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung gem. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV und den darauf fußenden Sekundärrechtsakten verpflichtet sämtliche Mitgliedstaaten bei der Strafverfolgung im Unionsraum zusammenzuarbeiten. Dafür ist nach dem gemeinsamen Verständnis der Mitgliedstaaten keine vorherige Harmonisierung der unterschiedlichen Straf- und Strafprozessordnungen erforderlich (vgl. dazu Ambos, Internationales Strafrecht, 2018, § 9 Rn. 26). Denn aufgrund der gemeinsamen EU-Grundrechtecharta (GrCh) (und der EMRK) besteht ein hinreichendes Vertrauen dafür, dass sämtliche Mitgliedstaaten ein gewisses Mindestschutzniveau gewährleisten, sodass es auf die einfachgesetzlichen oder nationalen verfassungsrechtlichen Unterschiede im Regelfall nicht ankomme (vgl. Petersen, Transnationaler Zugriff, 2024, S. 198 ff.). Auf diese Weise kann und soll eine effektive grenzüberschreitende Strafverfolgung ermöglicht werden. Die Unionsrechtshilfe nach dem Anerkennungsgrundsatz lässt aber ebenso erkennen, dass die pauschale Verpflichtung zur Leistung von Rechtshilfe nicht immer widerspruchsfrei frei ist und tendenziell zulasten des Betroffenen geht, weshalb die erheblichen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten dann im Einzelfall doch berücksichtigt werden können bzw. müssen. Dies gilt einmal mehr, wenn es sich um besonders eingriffsintensive und grenzüberschreitend wirkende Ermittlungsmaßnahmen handelt. Aus diesem Grund sehen die Sekundärrechtsakte – wie die Rl-EEA – Mechanismen vor, die eine Überprüfung nationalen Rechts durch die territorial betroffenen Mitgliedstaaten erforderlich machen können (Lenk, EuR 2024, 51, 74). Erforderlich ist dafür (mindestens) die Unterrichtung des betroffenen Mitgliedstaates. Die Folgen einer (bewusst) unterlassenen Unterrichtung sind umstritten: Da eine Harmonisierung nach Art. 82 Abs. 1 und 2 AEUV gerade nur ausnahmsweise erfolgen soll, wird für die Folgen von (Unions-)Rechtsverstößen wiederum auf das nationale Recht verwiesen (vgl. EuGH, Urt. v. 30.04.2024 - C-670/22 „EncroChat“ Rn. 128 f.; EuGH, Urt. v. 06.10.2020 - C-511/18 u.a. Rn. 222 „La Quadrature du Net u.a.“). II. Forum-Shopping Das LG stellt nun nicht weniger als ein bewusstes „Forum-Shopping“ deutscher Strafverfolgungsbehörden (vgl. Rn. 304) fest. Da nach nationalem Recht die Voraussetzungen der §§ 100a f. StPO nicht vorgelegen hätten und insoweit auch eine EEA nicht hätte erlassen werden dürfen, habe man bewusst von einer EEA zur Erhebung der EncroChat-Daten abgesehen und zunächst auf eine Erhebung der Daten durch französische Behörden nach französischen Recht gesetzt. Bei der Möglichkeit des „Forum-“ oder auch „Befugnis-Shoppings“ handelt es sich um die Mutter aller Sorgen bei der justiziellen Zusammenarbeit nach dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung (vgl. Wörner in: Ambos et al., Internationale Rechtshilfe, HT IV, § 91i IRG Rn. 533; Suhr in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Kommentar (2022), Art. 82 AEUV Rn. 5). Die Mitgliedstaaten könnten sich – so die Sorge – im Rahmen grenzüberschreitender Ermittlungen ermutigt fühlen, sich anderer Mitgliedstaaten zu bedienen, um nach nationalem Recht unzulässige Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen. Dieses – bei der Rechtshilfe ohnehin bestehende Risiko – wird durch den Anerkennungsgrundsatz erheblich gesteigert und hat sich nun wohl auch bestätigt. Die Entscheidung über die Unverwertbarkeit ist daher konsequent. III. Verstoß gegen Art. 31 Abs. 1 Rl-EEA Die Ausführungen des LG zur Unverwertbarkeit der EncroChat Daten aufgrund des Verstoßes gegen Art. 31 Abs. 1 Rl-EEA überzeugen. Die Unterrichtungspflicht und die Prüfung des vergleichbaren innerstaatlichen Falls gem. Absatz 3 durchbrechen den „Grundsatz gegenseitigen Vertrauens“ aufgrund der Eingriffsintensität der Ermittlungsmaßnahme und vor allem aufgrund der grenzüberschreitenden Wirkweise der TKÜ (vgl. Rn. 219 f.). In den Diskussionen um die Verwertbarkeit wird die Unterrichtung teilweise als eine lästige Formalie beschrieben. Tatsächlich sorgt die Unterrichtung aber dafür, dass der souveräne Mitgliedstaat Ermittlungsmaßnahmen eines anderen Mitgliedstaates auf seinem Territorium Einhalt gebieten kann, wenn diese Ermittlungen gegen sein nationales Recht (oder Unionrecht) verstoßen. Diese Überprüfung ist von essenzieller Bedeutung für die Einhaltung des nationalen Rechtsschutzniveaus, das bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen – anders als bei der eigenen Durchführung durch den Vollstreckungsstaat – unmittelbar unterlaufen zu werden droht. Ob es sich um politisch motivierte Ermittlungen eines in Teilen nicht immer rechtsstaatlich handelnden Mitgliedstaates oder um Ermittlungen eines Rechtsstaates wegen des Verdachts organisierter Kriminalität handelt, spielt dabei freilich keine Rolle. Die Bundesrepublik hat ihrer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gegenüber dem Betroffenen nachzukommen. Ohne Unterrichtung kann diese Schutzpflicht aber gerade nicht wahrgenommen werden. Auch wenn der EuGH nicht ausdrücklich auf die Folgen der rechtswidrigen Umgehung der Unterrichtungspflicht eingeht (und auch nicht eingehen kann), so ist das Ergebnis des LG mit Blick auf die Feststellungen zum individualschützenden Charakter des Art 31 Abs. 1 Rl-EEA (EuGH, Urt. v. 30.04.2024 - C-670/22 Rn. 124 „EncroChat“) i.V.m. den Feststellungen zu den Auswirkungen von Rechtsverstößen (Rn. 126 ff.) aufgrund des „fundamentalen rechtsstaatlichen Verstoß[es]“ (Meyer, GSZ 2024, 243, 251) geradezu zwingend. Denn wenn die individualschützende Unterrichtungspflicht gerade umgegangen wird, damit es zu keinem Widerspruch gem. Art. 31 Abs. 3 Rl-EEA kommt, obwohl die Voraussetzungen für eine entsprechende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen gar nicht vorlagen, dann wurden grundrechtliche Sicherungen planmäßig und systematisch außer Acht gelassen. Die Protokolle der Europol- und Eurojust-Konferenzen sowie der SIENA-Schriftverkehr sind nicht öffentlich einsehbar. In Anbetracht dessen, dass das LG sich dazu angehalten sieht, sowohl dem BGH als auch dem BVerfG in aller Deutlichkeit zu widersprechen, weil es von einem systematischen Rechtsverstoß ausgeht, ist davon auszugehen, dass die Informationen erdrückend sind. Ein Beweisverwertungsverbot ist vor diesem Hintergrund die logische Konsequenz. IV. Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 StPO (Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA) Das LG prüft die Verwertbarkeit anhand des § 100e Abs. 6 StPO. Der BGH war dagegen davon ausgegangen, dass § 100e Abs. 6 StPO nur seinem Grundgedanken nach als Verwertungsschranke hätte herangezogen werden können, weil die Daten „nach französischem Prozessrecht gewonnen wurden“ (BGH, Beschl., Rn. 65). In der Tat bestätigte der EuGH, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA auch auf die Übermittlung bereits verfügbarer Beweismittel anzuwenden ist und daher auf die Vorschrift abzustellen ist, die in dem vergleichbaren innerstaatlichen Fall Anwendung fände (EuGH, Urt. v. 30.04.2024 - C-670/22 Rn. 69 ff. „EncroChat“). Es war danach § 100e Abs. 6 StPO direkt anzuwenden. Das BVerfG stellte bereits fest, dass die Folge – unabhängig von der direkten Anwendung des § 100e Abs. 6 StPO – nicht die Unverwertbarkeit der EncroChat-Daten sein muss (BVerfG, Beschl., Rn. 85). Das LG meint nun aber, es komme bei der Prüfung des § 100e Abs. 6 StPO auf die Erkenntnisse im Zeitpunkt des Übermittlungsersuchens und nicht der Verwertung an (Rn. 273 ff.; so auch Meyer, GSZ 2024, 243, 246; Rückert in: MünchKomm StPO, 2. Aufl. 2023, § 100e StPO Rn. 93c). Tatsächlich ist dem LG beizupflichten, dass die Schutzfunktion des § 100e Abs. 6 StPO unterlaufen wird, wenn die Beweismittel aus einer nach nationalem Recht unzulässigen – aber nach französischem Recht zulässigen – Ermittlungsmaßnahme zur Verwertung in einem anderen Strafverfahren zweckumgewidmet werden und noch nicht einmal im Übermittlungszeitpunkt geprüft wird, ob diese Übermittlung nach den vorliegenden Kenntnissen rechtmäßig wäre. Es ist auch überzeugend, dass es bei der Prüfung des § 100e Abs. 6 StPO grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Erlasses der EEA ankommt und dafür auch die Kenntnis von entsprechenden – die Voraussetzungen begründenden – Tatsachen erforderlich ist (vgl. Rückert in: MünchKomm StPO, 2. Aufl. 2023, § 100e StPO Rn. 90a). Andernfalls ließe sich eine EEA auf Verfügbarmachung von Daten grundsätzlich auch ohne jeglichen Anfangsverdacht „ins Blaue hinein“ stellen. Anders als bei der im Rahmen von Art. 31 Abs. 1 Rl-EEA vorgenommen Abwägung muss hier aber eingeräumt werden, dass es sich bei dem Ergebnis des BGH um eben die Widersprüche handelt, die bei der justiziellen Zusammenarbeit nach dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung bestehen und hier offen zutage treten (vgl. Köhler, Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Aufl. 2024, § 100e StPO Rn. 23e ff.). Die Umgehung des Schutzes über § 100e StPO ist zumindest zum Teil Ausfluss des (berechtigten) Vertrauens in die französische Rechtsordnung und des Umstandes, dass nach dem Grundsatz der Verfügbarkeit ein Austausch verfügbarer Informationen zwischen den Mitgliedstaaten gerade gefördert werden soll (vgl. etwa Art. 10 Abs. 2 Buchst. a) Rl-EEA). Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA sieht anders als Art. 31 Abs. 1 Rl-EEA auch keine Durchbrechung des Anerkennungsgrundsatzes vor. Entlang des international-arbeitsteiligen Strafverfahrens gibt es daher durchaus Argumente mit dem BGH den Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs heranzuziehen und im Rahmen dessen auf den Zeitpunkt der Verwertung abzustellen (BGH, Beschl., Rn. 70). Wenn es im Zeitpunkt des EEA-Erlasses aber tatsächlich gänzlich an den für die Begründung der Voraussetzungen des § 100e Abs. 1 Nr. 1 StPO erforderlichen Tatsachenkenntnissen fehlte, hätte die EEA nach zutreffender Ansicht nie erlassen werden dürfen. Zumindest zu einem Informationsaustausch sei es aber auch nach den Ausführungen des LG im Vorfeld der EEA gekommen (vgl. Rn. 262). Umso deutlicher tritt hierbei hervor, welche Bedeutung der Unterrichtungspflicht aus Art. 31 Abs. 1 Rl-EEA zukommt. Fehlt es an der Unterrichtung und einer gerichtlichen Überprüfung durch den territorial betroffenen Mitgliedstaat, kann eben dieser Mitgliedstaat Beweismittel verfügbar machen, die nach seinem Recht niemals auf seinem Territorium hätten erhoben werden dürfen. Die Schlüsse des LG im Hinblick auf das Beweisverwertungsverbot aufgrund der Umgehung des Art. 6 Abs. 1 Buchst. b) Rl-EEA sind nach der Konzeption des Europäischen Strafrechts daher insgesamt nicht zwingend. Sie sind vor dem Hintergrund der festgestellten bewussten Umgehung der Vorschriften aber sehr gut nachvollziehbar und erklären, weshalb das LG abschließend ein Beweisverwertungsverbot aus einer Gesamtbetrachtung vornimmt. Jedenfalls Letzteres scheint hier in der Tat zu überzeugen, weil die Herabsenkung des Schutzniveaus durch die Verbindungen der betroffenen Rechtsordnungen und der Umgehung etwaiger Schutzvorschriften deutlich wird. Anknüpfen ließe sich für diese Gesamtbetrachtung auch an eine Umgehung des aus Art. 47 GRC gesicherten Rechts auf einen effektiven Rechtsbehelf bzw. einen ordre-public-Vorbehalt aus Art. 7 GRC (und Art. 8 GRC) (vgl. Meyer, GSZ 2024, 243, 244 ff.). V. Mangel an Informationen Auch die Feststellungen zu einem Mangel an Informationen ist überzeugend. Es ist kein Geheimnis, dass die Verteidigung in grenzüberschreitenden Fällen ohnehin dadurch erschwert wird, dass der Ermittlungsakte regelmäßig nicht genügend Informationen über den behördlichen Austausch und die Beweiserhebung im Ausland zu entnehmen sind. Im hiesigen Verfahren wiegt dies besonders schwer, weil es sich einerseits um besonders eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen handelte und hinreichende Erkenntnisse weder über die technischen noch über die verfahrensrechtlichen Einzelheiten zur Verfügung stehen. Dies führt – wie das LG entlang des ermittelten Sachverhalts zutreffend resümiert – vorliegend dazu, dass die Verteidigungsrechte nicht mehr gewahrt und das Recht auf ein faires Verfahren nicht mehr gewährleistet sind. Entsprechend lesen sich auch die Zweifel des EuGH, ob die aufgrund der französische Ermittlungsmaßnahme, die mit einer anlasslosen Massenüberwachung vergleichbar sei, erhobenen Daten einer Verwertung zugeführt werden können (EuGH, Urt. v. 30.04.2024 - C-670/22 Rn. 105 „EncroChat“; Meyer, GSZ 2024, 243, 246). Da das Recht zur Beweisverwertung im Unionsraum nicht harmonisiert ist, behalf sich der europäische Gesetzgeber damit, in Art. 14 Abs. 7 Rl-EEA eine Berücksichtigungspflicht für eben solche Fälle zu implementieren, in denen das Recht auf ein faires Verfahren aufgrund der justiziellen Zusammenarbeit nicht mehr gewährleistet ist (vgl. Zimmermann in: Schomburg/Lagodny, 6. Aufl. 2020, HT III Rechtsakte der EU B. III B 1. III B 1a. Kurzübersicht Rn. 14). Es ist daher auch aus diesem Grund von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen. Jedenfalls muss mit dem LG eine erhebliche Verminderung des Beweiswertes aufgrund des Informationsdefizits angenommen werden. VI. Auswirkungen Die Auswirkungen dieses Urteils auf die noch nicht rechtskräftigen EncroChat-Urteile und noch laufenden Verfahren sind freilich verheerend: Auch wenn eine Abwägung der betroffenen Interessen im Einzelfall erforderlich ist, schlägt das Pendel entlang der Feststellungen des LG nun doch weit zugunsten der Betroffenen aus. Hierbei handelt es sich um ein starkes Statement für ein rechtstaatliches Verfahren und die Einhaltung der „Rule of Law“. Das Sekundärrecht im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit ist alles andere als perfekt. Gleichwohl ermöglicht es dem Grunde nach eine effektive Strafverfolgung und sieht zugleich einen – im Rahmen des nach Art. 82 AEUV möglichen – Individualrechtsschutz vor. Letzterer ist jedoch davon abhängig, dass etwaige Verstöße gegen das Unionsrecht im nationalen Recht Folgen zeitigen. Sowohl der nationale Gesetzgeber als auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hat es bisher versäumt, diesem Umstand hinreichend Rechnung zu tragen. Das umfassende und gut begründete Urteil des LG setzt nun aber hohe Hürden für eine abweichende Entscheidung. Relevanz hat diese Rechtsprechung im Übrigen auch für die E-Evidence-Verordnung, die ab nächstem Jahr Wirkung entfaltet und vorrangig mit der sog. Unterrichtungs- und Widerspruchslösung arbeitet. Die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes würde die Strafverfolgungsbehörden dazu anhalten, den Verpflichtungen aus der E-Evidence-Verordnung auch nachzukommen.
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