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Anmerkung zu:OLG Brandenburg 1. Strafsenat, Beschluss vom 17.02.2025 - 1 Ws 67/24 (S)
Autor:Ulf Reuker, LL.M., RA und FA für Strafrecht, FA für Steuerrecht
Erscheinungsdatum:10.06.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 311 StPO, § 370 AO 1977, § 111b StPO, § 111d StPO, § 111e StPO, § 73 StGB, § 73a StGB, § 2 StrEG, § 5 StrEG, § 6 StrEG, § 473 StPO, § 8 StrEG, § 242 BGB
Fundstelle:jurisPR-StrafR 11/2025 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Reuker, jurisPR-StrafR 11/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Entschädigung für unrechtmäßige Einziehungsentscheidung auch nach Ablauf der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus kann der Entschädigungsberechtigte gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG die Nachholung bzw. Ergänzung einer Entscheidung beantragen.
2. Verjährungsfragen sowie ein erhöhter Aufwand des Staats aufgrund einer nicht zeitnahen Antragstellung wirken sich nicht auf den Antrag auf Nachholung bzw. Ergänzung der Entscheidung aus.



A.
Problemstellung
In dem Beschluss verwirft der erste Senat des OLG Brandenburg eine sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder). Die Beschwerde richtete sich gegen einen Beschluss des LG Potsdam vom 19.01.2024, in dem das LG Potsdam feststellte, dass der freigesprochene D für den zuvor angeordneten dinglichen Arrest und die auf dessen Grundlage erfolgten Sicherstellungen und Pfändungen analog § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG zu entschädigen ist. Während die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) vom Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke ausgeht und deshalb die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG für nicht gegeben hält, bejaht das OLG Brandenburg eine planwidrige Regelungslücke und legt ausführlich dar, weshalb es sich der überwiegend vertretenen Auffassung anschließt und die Möglichkeit einer analogen Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG anerkennt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das OLG Brandenburg bestätigt die Nachholung einer Entschädigungsentscheidung durch das LG Potsdam und hält im Einklang mit der überwiegend vertretenen Auffassung § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG im Falle einer versehentlich unterbliebenen oder unvollständigen Grundentscheidung für analog anwendbar. Demzufolge kann der Entschädigungsberechtigte die Nachholung bzw. Ergänzung der Entscheidung beantragen, ohne hierbei eine Frist einhalten zu müssen. Dagegen kann das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde dem OLG Brandenburg nach grundsätzlich nicht gegen eine unterlassene Entscheidung eingelegt werden. Das OLG Brandenburg führt hierzu aus, dass es insoweit an einer rechtsmittelfähigen Entscheidung fehle, die D mit einer sofortigen Beschwerde hätte anfechten können. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) führte unter anderem gegen D ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO. Im Ermittlungsverfahren ordnete das AG Frankfurt (Oder) zum Zwecke der Sicherung von mutmaßlichen zivilrechtlichen Ansprüchen des Landes Brandenburg gemäß den §§ 111b, 111d, 111e Abs. 1 StPO i.V.m. den §§ 73, 73a StGB a.F. den dinglichen Arrest in das Vermögen des zum Zeitpunkt der Anordnung Beschuldigten D an.
Am 18.01.2019 sprach das LG Potsdam D von den Vorwürfen frei. Hinsichtlich einer Entschädigungspflicht des Staats gegenüber D entschied das LG Potsdam lediglich, dass D für die Zeit, die dieser in Untersuchungshaft verbracht hat, zu entschädigen ist. Das Urteil wurde am 15.08.2019 rechtskräftig.
Der gegenüber D vom AG Frankfurt (Oder) angeordnete dingliche Arrest wurde schließlich durch Beschluss des LG Potsdam am 14.11.2019 aufgehoben. Die Herausgabe der freigegebenen Gegenstände an D zog sich bis zum 12.07.2023. Auf Antrag des D stellte das LG Potsdam mit Beschl. v. 19.01.2024 fest, dass D für den dinglichen Arrest sowie die Sicherstellungen und Pfändungen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG zu entschädigen ist. Das LG hält sich auf Grundlage einer analogen Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG zu einer Nachholung der Entscheidung berechtigt und verpflichtet. Weder seien Ausschluss- oder Versagungsgründe nach den §§ 5, 6 StrEG ersichtlich noch sei trotz des Zeitablaufs von vier Jahren Verwirkung eingetreten.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) wehrt sich gegen den Aufhebungsbeschluss des LG Potsdam mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde und begründet diese damit, dass für eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG kein Raum bestehe. So sei der Wortlaut der Norm eindeutig und abschließend, weshalb es an einer Regelungslücke fehle. Ferner führt die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) aus, dass eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG dazu führt, dass etwaige Ansprüche noch nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen geltend gemacht werden können und der Staat somit für die Entscheidungsfindung von Informationen des Antragstellers abhängig ist. Außerdem sei der Anspruch des D bereits verjährt. Dem Rechtsmittel ist die Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg beigetreten, die ergänzend anführt, dass nach dem Willen des Gesetzgebers das isolierte Beschwerdeverfahren die Ausnahme sein soll und es ferner an einem Schutzbedürfnis des D fehlt. Denn D hätte gegen die teilweise unterbliebene Entscheidung mit der in § 8 Abs. 3 Satz 1 StrEG vorgesehenen sofortigen Beschwerde vorgehen können. Die zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) wird vom OLG Brandenburg als unbegründet verworfen.
Seine Entscheidung begründet der Senat mit der ansonsten bestehenden Schutzlosigkeit des Entscheidungsberechtigten in der zu entscheidenden Fallkonstellation. Hierin sieht das OLG Brandenburg eine planwidrige Regelungslücke, weshalb es die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG für gegeben hält. Der Senat verortet den Fehler, der die Ursache der Entschädigung bildet, im Verantwortungsbereich der Justiz und erachtet deshalb weder Verjährungsfragen noch besondere Hürden, die sich aus einer fehlenden Fristgebundenheit des Entschädigungsantrags ergeben, als relevant. Stattdessen kann nach dem OLG Brandenburg lediglich eine Verwirkung des Entschädigungsanspruchs in Betracht kommen. Indes genüge hierfür der bloße Zeitablauf nicht. Außerdem argumentiert der Senat mit der materiellen Gerechtigkeit. So solle der freigesprochene D, dem bereits durch das Ermittlungsverfahren Unrecht widerfahren sei, nicht auch noch durch eine versehentlich unterlassene Entscheidung des Landgerichts belastet werden.


C.
Kontext der Entscheidung
Zur Lösung des Problems einer in einem Urteil oder Beschluss versehentlich unterbliebenen oder unvollständigen Grundentscheidung über die Entschädigung werden in der Rechtsprechung und Literatur verschiedene Ansätze vertreten.
Die aus Blickwinkel des Entschädigungsberechtigten strengste Auffassung verweist diesen auf das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschl. v. 07.11.2000 - 1 Ws 532/00 Rn. 3 ff.). Dies entspricht dem von der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) und der Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg vertretenen Ansatz. Der Ansicht nach sei der Anwendungsbereich des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG bewusst eng geregelt und der Wortlaut der Norm abschließend. Es fehle daher an einer planwidrigen Regelungslücke und damit an den Analogievoraussetzungen (vgl. Kotz/Arnemann in: MAH Strafverteidigung, 3. Aufl. 2022, § 29 Rn. 188).
Dagegen kann nach der unter anderem vom OLG Brandenburg vertretenen Gegenmeinung mit der sofortigen Beschwerde nicht gegen eine unterlassene Entscheidung vorgegangen werden, da es mangels Entscheidung an einem Beschwerdegegenstand fehlt. Das OLG Brandenburg liegt insofern mit der weit überwiegend vertretenen Auffassung auf einer Linie, die argumentiert, dass das Schweigen in einer Entscheidung nicht mit der Versagung einer Entschädigung gleichgesetzt werden könne (Kunz/Grommes in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2025, § 8 StrEG Rn. 49). Ferner möchte diese Meinung den Beschuldigten nicht mit dem sich aus § 473 Abs. 1 StPO ergebenden Kostenrisiko einer sofortigen Beschwerde belasten (vgl. Kunz/Grommes in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2025, § 8 StrEG Rn. 49). Die von der Gegenauffassung vorgetragene Sorge, die Möglichkeit einer Nachholung führe zu Verjährungsproblemen, sei darüber hinaus unbegründet, da Verjährungsprobleme in der Praxis nicht bekannt wären (Kunz/Grommes in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2025, § 8 StrEG Rn. 27).
Des Weiteren hält eine vermittelnde Auffassung sowohl eine Nachholung der unterbliebenen Entscheidung als auch die Anfechtung der Entscheidung mittels sofortiger Beschwerde für möglich (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 04.02.1987 - 3 Ws 22/87 - MDR 1988, 164). Eine sofortige Beschwerde soll bei einer unterbliebenen Entscheidung zumindest dann möglich sein, wenn für den Fall einer nicht ausgesprochenen Haftentschädigung über das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde belehrt wurde (Kunz/Grommes in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2025, § 8 StrEG Rn. 27).
Grundsätzlich ist die streng dogmatische Vorgehensweise der vom OLG Brandenburg vertretenen Ansicht begrüßenswert. Dass eine Beschwerde nur beim Vorliegen eines Beschwerdegegenstands eingelegt werden kann, ist einleuchtend. Gleichwohl ist die vermittelnde Auffassung, die zugunsten des Entschädigungsberechtigten mit der Dogmatik bricht und eine sofortige Beschwerde bei einer entsprechenden Belehrung für zulässig erachtet, wohl vorzugswürdig, da dem Entschädigungsberechtigten nicht zugemutet werden kann, auf anderem Wege als nach der ihm erteilten Belehrung gegen eine unterbliebene Entschädigungsentscheidung vorzugehen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Aufgrund der unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich des Umgangs mit dem Problem einer versehentlich unterbliebenen Grundentscheidung über die Entschädigung besteht in der Praxis Rechtsunsicherheit. Der Entschädigungsberechtigte hat zwar ein Recht darauf, entschädigt zu werden, weiß jedoch nicht, wie er zu seinem Recht kommt. Problematisch ist aus Sicht des Entschädigungsberechtigten insbesondere, dass das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde fristgebunden ist. Entscheidet sich der Entschädigungsberechtigte wie im vorliegenden Fall dazu, zunächst die Nachholung der Entscheidung zu beantragen und hat damit anders als im vorliegenden Fall keinen Erfolg, weil das Gericht, an das sich der Entschädigungsberechtigte wendet, eine andere Ansicht als das OLG Brandenburg vertritt, so läuft er Gefahr, die Fristen der sofortigen Beschwerde zu versäumen. Eine Entschädigung könnte dann nicht mehr erreicht werden. Legt der Entschädigungsberechtigte dagegen eine sofortige Beschwerde gegen die unterbliebene Entscheidung ein, so trifft ihn das Kostenrisiko aus § 473 Abs. 1 StPO (Kunz/Grommes in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2025, § 8 StrEG Rn. 49; a.A. Kotz/Arnemann in: MAH Strafverteidigung, 3. Aufl. 2022, § 29 Rn. 188).
Der Beschluss des OLG Brandenburg bekräftigt zwar die vorherrschende Meinung, nach der die Nachholung einer Entscheidung durch eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG möglich sein soll. Gleichwohl hätte die Entscheidung in einem anderen Oberlandesgerichtsbezirk durchaus anders ausfallen können. Erst kürzlich hat das OLG Hamm in einer ähnlichen Fallkonstellation i.S.d. Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) entschieden und die sofortige Beschwerde zum richtigen Rechtsmittel gegen eine unterbliebene Grundentscheidung erklärt (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 14.02.2023 - 5 Ws 11/23).
Aus diesem Grund ändert die Entscheidung des OLG Brandenburg nichts am gesetzgeberischen Handlungsbedarf. So führt auch die deutliche Positionierung des Senats zugunsten der Möglichkeit einer Nachholung der Entscheidung nicht zur Rechtssicherheit. Die Schaffung von Rechtssicherheit liegt vielmehr in der Verantwortung des Gesetzgebers. Gerade vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes hat der Gesetzgeber deutlich zu regeln, wie sich der Entschädigungsberechtigte gegen eine unterbliebene Entscheidung wehren kann.
Freilich stellt sich die gesamte Problematik rund um den richtigen Umgang mit einer unterbliebenen Grundentscheidung über die Entschädigung erst, wenn hoheitliche Fehler die Möglichkeit einer Entschädigung bieten und zusätzlich die Vornahme einer Entscheidung hinsichtlich einer Entschädigung versäumt wird. Dementsprechend gibt die hiesige Entscheidung erneut Anlass, die Bedeutung des Einziehungsrechts hervorzuheben. Ein Indiz dafür, dass die Bedeutung des Einziehungsrechts den Justizbehörden nicht immer bewusst zu sein scheint, liegt im Übrigen in der beträchtlichen Dauer von nahezu vier Jahren, über die sich vorliegend die Herausgabe der freigegebenen Arrestgegenstände zog.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Im Übrigen äußert sich das OLG Brandenburg zu den Voraussetzungen einer Verwirkung i.S.d. § 242 BGB. Hierzu führt es in der Entscheidung aus, dass reiner Zeitablauf nicht für die Verwirkung eines Anspruchs ausreicht. Damit schließt das OLG Brandenburg die im Zivilrecht anerkannte Fallgruppe der Verwirkung eines Anspruchs durch Zeitablauf als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (vgl. Schubert in: MünchKomm BGB, 9. Aufl. 2022, § 242 Rn. 440 ff.) zumindest für die vorliegende Fallkonstellation aus. Eingedenk dessen, dass die Voraussetzungen für eine Entschädigungspflicht von der Justiz durch fehlerhaftes Verhalten selbst geschaffen wurden, scheint dies folgerichtig. Dennoch besteht der Anspruch des Entschädigungsberechtigten auf Nachholung der Entscheidung nicht grenzenlos. Denkbar scheint weiterhin eine Verwirkung des Anspruchs durch missbilligtes Verhalten (vgl. Schubert in: MünchKomm BGB, 9. Aufl. 2022, § 242 Rn. 336).



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