juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 6. Strafsenat, Beschluss vom 30.04.2024 - 6 StR 536/23
Autor:Dr. Gunnar Greier, LOStA
Erscheinungsdatum:08.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 2 StGB, § 30a BtMG 1981, § 3 KCanG, § 34 KCanG
Fundstelle:jurisPR-StrafR 13/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Greier, jurisPR-StrafR 13/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zur Frage des Abzugs einer straffrei zu besitzenden Menge Cannabis bei Ermittlung der nicht geringen Menge THC



Orientierungssatz zur Anmerkung

Bei der Prüfung des Vorliegens einer nicht geringen Menge Cannabis i.S.d. § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG ist ein für den Eigenbesitz zum Konsum bestimmter und nicht die Grenzen der Strafbarkeit gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 KCanG übersteigender Anteil außer Acht zu lassen.



A.
Problemstellung
Wie zu erwarten war, beschäftigen die Neuerungen des Konsumcannabisgesetzes die Praxis weiter intensiv. Einzelfragen, wie etwa die Verwertbarkeit der im Wege der Rechtshilfe erlangten Encrochat- und SkyECC-Daten, werden durch die Gerichte unterschiedlich bewertet, was die Rechtsanwendung nachhaltig erschwert (hierzu Schubert, jurisPR-StrafR 8/2024 Anm. 3). Als geklärt dürfte hingegen gelten, dass die nicht geringe Menge Cannabis i.S.d. § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG wie schon auf Grundlage des BtMG anhand des Wirkstoffgehalts zu bestimmen und ab 7,5g Tetrahydrocannabinol (THC) gegeben ist. Der nur wenige Tage nach dem Inkrafttreten der Neuregelungen ergangenen Entscheidung des 1. Senats zu dieser Frage (hierzu Greier, jurisPR-StrafR 9/2024 Anm. 1) haben sich die weiteren Senate angeschlossen. Dies hat zwar nicht zu einem Verstummen der kritischen Stimmen geführt, zumindest in diesem Bereich hat die Rechtsprechung aber die durch den Gesetzgeber verursachte Unklarheit beseitigt. An diese Klärung schließt sich jedoch die Folgefrage an, anhand welcher Menge an Cannabis der Wirkstoffanteil zu bestimmen ist. In Betracht kommt die gesamte aufgefundene Menge oder nur der Teil, der die nicht strafbaren Besitzmengen aus § 34 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 KCanG übersteigt. Hierzu verhält sich die Entscheidung des 6. Strafsenats in einem nach einer Teilaufhebung erteilten Hinweis an das neue Tatgericht.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln verurteilt. Der Angeklagte hatte in einem Kellerraum Cannabisharzplatten und Cannabisblüten aufbewahrt. Die für den Eigenkonsum bestimmten Blüten wiesen ein Trockengewicht von etwa 1 kg bei einem THC-Anteil von 163g auf. Die Harzplatten mit einem THC-Anteil von 223g waren zum gewinnbringenden Verkauf bestimmt. In Griffweite zu den Harzplatten befanden sich im Keller u.a. ein Messer, eine Machete und zwei Luftdruckgewehre. Der Senat passte den Schuldspruch den neuen Vorschriften an und hob das Urteil im Strafausspruch auf. Die zum 01.04.2024 in Kraft getretenen Regelungen des KCanG stellen sich als milderes Gesetz i.S.v. § 2 Abs. 3 StGB dar, da der Strafrahmen für bewaffnetes Handeltreiben in § 34 Abs. 4 Nr. 4 KCanG gegenüber § 30a BtMG geringer ausfällt. Die Kammer hatte zwar einen minder schweren Fall i.S.d. § 30a Abs. 3 BtMG angenommen, dies ändert aber an der Bewertung des KCanG als milderes Gesetz nichts, zumal aus Sicht des BGH im vorliegenden Fall ausgeschlossen ist, dass auch unter Anwendung von § 34 Abs. 4 KCanG nicht der auch dort vorgesehene geringere Strafrahmen für einen minder schweren Fall heranzuziehen sein wird. In diesem Zusammenhang stellt der Senat aber auch klar, bei der Strafzumessung nach dem KCanG könne nicht strafmildernd berücksichtigt werden, anders als nach dem BtMG, dass Cannabis im Verhältnis zu anderen Betäubungsmitteln eine „weiche“ Droge sei.
Zur Frage der nicht geringen Menge schließt sich der 6. Senat dann zunächst bezüglich der Tatvariante des Handeltreibens der Ansicht des 1. Senats an und geht vom Vorliegen einer nicht geringen Menge ab 7,5g THC aus. Die Frage eines Abzugs war hier nicht relevant. Das Handeltreiben – im vorliegenden Fall betraf dies das für den Verkauf bestimmte Cannabisharz – ist weiter uneingeschränkt verboten, denn Ziel des KCanG ist es, den illegalen Markt für Cannabis einzudämmen. Einen strafffreien Bereich gibt es beim Handeltreiben auch nach dem KCanG nicht. Anders stellt sich die Rechtslage beim Besitz, hier hinsichtlich der Cannabisblüten, dar. Insoweit ist aus Sicht des 6. Senats der geänderten Risikobewertung des Gesetzgebers dadurch Rechnung zu tragen, dass die für eigenkonsumnahen Besitz geltenden Freimengen abgezogen werden. Bei Sicherstellung am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort sind somit 60g, bei Sicherstellung an einem anderen Ort sind 30g „außer Acht“ zu lassen. Gleiches gilt für drei Cannabispflanzen. Zur Begründung stellt das Gericht darauf ab, dass angesichts der durchschnittlichen Wirkstoffgehalte etwa bei Cannabisharz von 22,5% schon die straflose Besitzmenge von 60g oftmals die Grenze der nicht geringen Menge i.S.v. § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG überschreiten würde. Wird hingegen die vom Gesetzgeber jeweils erlaubte Menge abgezogen, verbleibt ein hinreichender, in den Regelstrafrahmen von § 34 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 KCanG einzuordnender Strafbarkeitsbereich.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung verdeutlicht zunächst in ihrer Unterscheidung der Tathandlungen, dass sich die Frage der straflosen Freimengen nur bei Besitz zum Eigenkonsum stellt. Ist von einem Handeltreiben auszugehen, sieht auch das KCanG keine straflosen Freimengen vor. Die Entscheidung klärt darüber hinaus zum eigenkonsumnahen Besitz scheinbar eine, wirft aber dabei weitere Fragen auf. So wird nicht ganz deutlich gemacht, ob der vom 6. Senat vertretene Abzug einer Freimenge sich nur auf die Ermittlung der nicht geringen Menge beziehen soll. Ist bei Besitz von 70g am Wohnort auch für die Frage der Strafbarkeit gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 1 KCanG die Freigrenze abzuziehen, was durchaus naheliegt, kann eine Verurteilung nur wegen unerlaubten Besitzes von 10g erfolgen. Nur auf diese Menge bezogen käme dann auch eine Einziehung des Cannabis in Betracht. Wird hingegen bei einem Überschreiten der Freimengen die Strafbarkeit bezüglich der Gesamtmenge angenommen, könnte auch die gesamte Menge eingezogen werden. Die Beantwortung dieser Frage wirkt sich schon im Ermittlungsverfahren aus. So hat das AG Bautzen jüngst die von der Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren beantragte Beschlagnahme von vier sichergestellten Cannabispflanzen abgelehnt und nur bezüglich einer Pflanze angeordnet (Beschl. v. 27.05.2024 - 47 Gs 409/24). Der im Rahmen von § 3 KCanG erlaubte Besitz werde durch das Überschreiten der Menge nicht insgesamt unerlaubt. Ist die Entscheidung des BGH in diesem Sinne zu verstehen, dürften die ohnehin nur noch mit Feinwaagen umzusetzenden Sicherstellungen von Cannabis durch Strafverfolgungsbehörden künftig um die Diskussion bereichert werden, welcher Teil einer aufgefundenen Cannabismenge von 70g straffrei und somit vor Ort zu belassen ist. Bei unterschiedlichen Teilmengen könnte es im Interesse des Betroffenen sein, die Menge mit dem geringsten THC-Anteil als die Freimenge übersteigend zu widmen und Teile mit hohem THC-Anteil zu behalten. Dafür müsste der THC-Anteil allerdings zum Zeitpunkt der Sicherstellung bekannt sein. Dies dürfte eher selten der Fall sein. Ist in einer bei einem Beschuldigten nach Abzug einer Freimenge sichergestellten Menge Cannabis ein Wirkstoffanteil von 7,5g THC festzustellen, erscheint zudem die Einlassung nicht fernliegend, diese nicht geringe Menge wäre nicht zustande gekommen, wenn die Strafverfolgungsbehörden die vor Ort belassene Freimenge mitgenommen hätte und nicht die (womöglich) deutlich THC-haltigere, tatsächlich sichergestellte übersteigende Menge. Das Problem der Auswahl bei Umsetzung einer Sicherstellung stellt sich ebenso bei Pflanzen. Hier könnte es aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden sinnvoll sein, von vier Pflanzen die größte Pflanze sicherzustellen, die Interessen des Betroffenen weichen aber auch hier eventuell ab. Interessanterweise ist dem veröffentlichten Text der oben genannten Entscheidung des AG Bautzen ein konkretisierender Hinweis darauf, welche der vier Pflanzen beschlagnahmt wurde, nicht zu entnehmen.
Misslich ist zudem, dass der 6. Senat zwar bezüglich der Fortgeltung der Rechtsprechung zur nicht geringen Menge THC den 1. Senat zitiert und sich ihm anschließt, eine Befassung mit der Argumentation des 1. Senats zur Frage des Abzugs einer Freimenge aber vermissen lässt. Der 1. Senat hatte in seiner Entscheidung vom 18.04.2024 (1 StR 106/24) Vorgaben hinsichtlich eines zu wahrenden Abstands zu den erlaubten Besitzmengen bei der Ermittlung einer nicht geringen Menge ausdrücklich abgelehnt. Angesichts der Variationsbreite beim Wirkstoffgehalt weise nicht jede strafbare Besitzmenge automatisch eine nicht geringe Menge an THC auf. Dies entspricht auch der Sicht des Hanseatischen OLG Hamburg (Beschl. v. 09.04.2024 - 5 Ws 19/24). Auch das OLG hatte betont, dass selbst ohne pauschalen Abzug einer Freimenge regelmäßig ein Anwendungsbereich für den Grundtatbestand verbleibe. Der Gesetzgeber habe zudem die zulässigen Besitzmengen gerade nicht wirkstoffbezogen festgelegt.
Auch hätte der 6. Senat als Alternative zum Abzug von Freimengen erwägen können, die Indizwirkung des Regelbeispiels einer wirkstoffbezogenen nicht geringen Menge i.S.d. § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG bei geringfügiger Überschreitung der zulässigen (Brutto-)Besitzmenge abzuschwächen. Diesen Ansatz hat etwa auch das BayObLG (Rn. 19) verfolgt. Bei einer Wirkstoffmenge von 11,4g THC betonte das Gericht, die Prüfung eines besonders schweren Falles bedürfe trotz Vorliegens einer nicht geringen Menge einer Gesamtwürdigung aller relevanten Strafzumessungstatsachen. So könnte trotz Vorliegens einer nicht geringen Menge die Anwendung des erhöhten Strafrahmens vermieden werden. Dieser Ansatz scheint gegenüber der nur schwer einem konkreten Tatbestandsmerkmal zuzuordnenden Vorgabe, bestimmte Mengen „außer Acht“ zu lassen, vorzugswürdig und könnte den Besonderheiten des Einzelfalls eher Rechnung tragen.
Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die anderen Senate des BGH zu dieser Frage positionieren.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Auch vor der Herausbildung einer gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung wird die Entscheidung des 6. Strafsenats erhebliche Auswirkungen auf die Praxis haben. Unter die Voraussetzungen der angenommenen Abzugsregelungen zu subsumierende Sachverhalte fallen in der Praxis täglich zahlreich an. Es dürfte sich daher schon bald zeigen, wie die Instanzgerichte die Entscheidung aufnehmen. Die bei der Umsetzung einer Beschlagnahme in den vielen konkreten Einzelfällen zu treffenden Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden werden sicher nicht einfacher. Der Rechtssicherheit dienen die zu erwartenden Diskussionen über die Ausübung des Auswahlermessens bei der Unterscheidung zwischen Freimenge und strafrechtlich relevantem Überhang kaum.
Besonderes Augenmerk dürfte in diesen Fällen auf die Prüfung des Anfangsverdachts auch eines Handeltreibens mit Cannabis zu legen sein. Da schon die straffrei zum Eigenkonsum zu besitzenden Mengen eine Vorratshaltung für einen beachtlichen Zeitraum ermöglichen, liegt bei einem Überschreiten um nicht nur wenige Gramm und weiteren Indizien, etwa Art der Lagerung und Verpackung, der Anfangsverdacht des Handeltreibens nicht fern. Ist dieser Verdacht zu bejahen, greifen die Freimengen des § 3 KCanG nicht.
Abzuwarten bleibt zudem, wie sich die Strafzumessung für Taten nach § 34 KCanG entwickeln wird. Zwar sind die Strafrahmen gegenüber dem BtMG deutlich reduziert worden, dafür entfällt – wie der 6. Senat zutreffend anmerkt – der bei Verurteilungen für Cannabis-Taten nach dem BtMG regelmäßig strafmildernd zu berücksichtigende Aspekt, dass sich die Tat auf eine – im Verhältnis zu anderen Betäubungsmitteln – „weiche Droge“ bezogen hat.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
In das Urteil einbezogen hatte das Landgericht eine Verurteilung des Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz durch Besitz eines Faustdolches. Diesen Dolch hatte der Angeklagte nach seiner Einlassung zunächst mit dem Cannabis und den anderen Waffen im Keller aufbewahrt, dann zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt wegen einer befürchteten Auseinandersetzung in einer Gaststätte mit sich geführt und anschließend in den Nachtschrank in seiner Wohnung gelegt. Dort wurde der Dolch bei der Durchsuchung, bei der auch das Cannabis und die anderen Waffen aufgefunden wurden, sichergesellt. Der Besitz des Dolches an diesem Tag war Gegenstand der einbezogenen Verurteilung. Insoweit stellt der BGH klar, dass ein Strafklageverbrauch nicht eingetreten ist. Zwar habe zunächst Tateinheit zwischen dem BtM-Delikt und dem Verstoß gegen das Waffengesetz bzgl. des Dolches vorgelegen. Durch die Entscheidung, den Dolch in die Gaststätte mitzunehmen und damit tatbestandlich zu führen, ist jedoch eine Zäsur eingetreten. Der nicht mehr im Zusammenhang mit dem Cannabis stehende Entschluss zum Führen des Faustdolches führt dazu, dass der frühere Besitz – im Keller – nicht mehr mit dem späteren Besitz – in der Wohnung – über eine Verklammerung zur Tateinheit verbunden ist. Zudem fehlt es an einem inneren Zusammenhang zwischen dem Besitz des Dolches am Tag der Durchsuchung und dem bewaffneten Handeltreiben, der über die bloße Gleichzeitigkeit des Geschehensablaufs hinausgeht. Die Bestimmung des Dolches zum Zwecke der Verteidigung des im Keller gelagerten Cannabis war durch die Mitnahme aus dem Keller aufgehoben worden.



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