Ermessenserwägungen bei einer Verrechnungsentscheidung gemäß § 52 SGB ILeitsatz Von dem durch §§ 52, 51 Abs. 2 SGB I eingeräumten Ermessen zur Verrechnung von Sozialleistungsansprüchen mit Beitragsrückständen darf der Sozialleistungsträger nur unter angemessener Berücksichtigung auch der berechtigten Interessen des Leistungsempfängers Gebrauch machen. - A.
Problemstellung Nach § 52 SGB I kann der für eine Geldleistung zuständige Leistungsträger mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers dessen Ansprüche gegen den Berechtigten mit der ihm obliegenden Geldleistung verrechnen. Die Verrechnungserklärung erfolgt durch Verwaltungsakt gegenüber dem Bürger. Fraglich war, ob das „kann“ in § 52 SGB I als sog. „Kompetenz-Kann“ oder als echtes „Ermessens-Kann“ zu verstehen ist. Das LSG Celle-Bremen hat mit der wohl herrschenden Meinung im vorliegenden Fall zu Recht von der Beklagten verlangt, bei dem Verrechnungs-Verwaltungsakt eine vollinhaltliche Ermessensentscheidung und Begründung i.S.d. § 35 SGB X vorzunehmen. Soweit das Landessozialgericht dabei aber weitgehende Aussagen zur Zulässigkeit von Verrechnungen gegenüber insolvent gewordenen Schuldnern trifft, ist diesen nicht in allen Konsequenzen zu folgen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der damals 62jährige Kläger war bis Frühjahr 2008 Inhaber eines Bauunternehmens. Das Unternehmen wurde zahlungsunfähig, unter anderem weil eine von der öffentlichen Hand betriebene GmbH die Forderungen des Klägers für einen Großauftrag nicht zeitgerecht erfüllte. Der beigeladenen BG schuldete der Kläger zum einen Beiträge aufgrund der Beschäftigung von Arbeitnehmern i.H.v. 204,43 Euro. Zum anderen bezifferte die Beigeladene die Beitragsforderungen für die freiwillige Versicherung des Klägers auf 390,90 Euro. Bezüglich des Betrages von 204,43 Euro unternahm die Beigeladene 2011 einen erfolglosen Vollstreckungsversuch. Hinsichtlich der 390,90 Euro gab es keine Vollstreckungsversuche. Die Beitragsforderungen wurden seinerzeit nach Angaben der Beigeladenen „befristet niedergeschlagen“, ohne dass dies dem Kläger mitgeteilt wurde. Der Beklagte gewährte dem Kläger seit 2010 Regelaltersrente, wobei von den Rentenzahlungen seit Ende 2010 Teilbeträge zur Tilgung von Forderungen anderer Sozialleistungsträger i.H.v. mehr als 31.000 Euro fortlaufend einbehalten wurden. Im August 2020 machte die Beigeladene bei der Beklagten ein Verrechnungsersuchen mit einem Gesamtbetrag von 817,33 Euro geltend, der sich aus den Beträgen von 204,43 Euro und 390,90 Euro sowie Säumniszuschlägen für die Jahre 2009 bis 2011 zusammensetzte. Die Beklagte sprach sodann die Verrechnung des von der Beigeladenen geltend gemachten Betrages von 817,33 Euro mit den laufenden (sich auf einen monatlichen Zahlbetrag von 625,14 Euro belaufenden) Rentenansprüchen des Klägers aus. Das Sozialgericht wies die Klage ab. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg. Das LSG Celle-Bremen hat das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben. Die einseitig durch Verwaltungsakt geregelte Verrechnung stehe – ebenso wie die Aufrechnung – im pflichtgemäßen Ermessen des sie durchführenden Leistungsträgers; insoweit handle es sich bei dem „kann“ in § 52 Halbsatz 1 SGB I und § 51 Abs. 1 Halbsatz 1, Abs. 2 Halbsatz 1 SGB I um ein sog. „Ermessens-Kann“. Mit der Einräumung „echten Ermessens“ stehe dem Leistungsträger eine breite Handlungsmöglichkeit hinsichtlich des Ob und des Umfangs einer Verrechnung zur Verfügung, um so die Besonderheiten des Einzelfalls angemessen berücksichtigen zu können (Hinweis auf BSG, Urt. v. 07.02.2012 - B 13 R 85/09 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 5 m.w.N.). Demgemäß müsse die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht nur ergeben, dass die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung treffen habe wollen, sie müsse auch diejenigen Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen sie bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen sei (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X und BSG, Urt. v. 26.02.1991 - 10 RAr 4/90 - SozR 3-2400 § 24 Nr 1 m.w.N.). Die Beklagte habe jedoch mit der zur Überprüfung gestellten Verrechnungsentscheidung bereits im Ausgangspunkt die Reichweite der „breiten Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich des Ob und des Umfangs einer Verrechnung“ verkannt, denn sie interpretiere im Ergebnis § 51 Abs. 2 SGB I i.V.m. § 52 SGB I im Sinne einer Soll-Vorschrift. Der Gesetzgeber habe aber gerade davon abgesehen, eine solche Soll-Vorschrift zu normieren. Bei Verabschiedung des § 51 SGB I habe der Gesetzgeber selbst die mit dieser Vorschrift zum Ausdruck gebrachte Privilegierung der Leistungsträger vor anderen Gläubigern als rechtspolitisch wenig überzeugend betrachtet und in den Materialien hervorgehoben, dass eine Kürzung des Leistungsanspruchs unter die Pfändungsgrenzen vielfach „sozialpolitisch bedenklich“ erscheine (Hinweis auf BT-Drs. 7/868, S. 32). Die damit verbundene Privilegierung von Sozialleistungsträgern sei überdies auch „rechtspolitisch“ nicht befriedigend. Gleichwohl habe sich der Gesetzgeber zu der weit gefassten Regelung des § 51 Abs. 2 SGB I entschlossen. Anknüpfend an die von ihm in den Materialien selbst festgehaltenen Bedenken habe er sich dabei von der Erwartung leiten lassen, dass die Sozialleistungsträger im Rahmen der Ermessensausübung sachgerechte Ergebnisse finden würden. Im Ergebnis habe der Gesetzgeber in § 51 Abs. 2 SGB I nur den Höchstrahmen vorgegeben, bis zu dem eine Aufrechnung (bzw. im Rahmen von § 52 SGB I: Verrechnung) erfolgen dürfe. Je nach Ausgestaltung des Sachverhalts sei die Angemessenheit einer Auf- bzw. Verrechnung der Beitragsrückstände mit laufenden Sozialleistungsansprüchen sehr unterschiedlich zu bewerten. Dies gelte in besonderem Maße, wenn die betroffenen Sozialleistungsansprüche ansonsten von den Pfändungsschutzvorschriften nach den §§ 51 Abs. 1, 54 Abs. 2 bis 4 SGB I erfasst würden. Der Gesetzgeber habe auch für solche, an sich pfändungsfreie Sozialleistungsansprüche, mit den Vorgaben der §§ 51 , 52 SGB I die Möglichkeit ihrer Auf- bzw. Verrechnung mit rückständigen Beitragsforderungen eröffnet; er habe die Wahrnehmung dieser Möglichkeit aber zugleich in das – sachgerecht auszuübende – Ermessen des leistenden Trägers gestellt. Die Sozialleistungsträger haben dabei auch den „Zweck der Sozialleistung“ (angemessen) zu berücksichtigen (Hinweis auf BT-Drs. 7/868, S. 32). Sie müssen daher bei der Ausübung von Ermessen darauf achten, dass einem angemessenen sozialen Schutz des Versicherten hinreichend Rechnung getragen werde. Dies korrespondiere mit der Verpflichtung des § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I, darauf hinzuwirken, dass der (hier: Renten-)Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen „umfassend“ erhalte (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I). Diesen gesetzgeberischen Wertentscheidungen haben die Sozialleistungsträger bei der Ausübung des ihnen durch § 51 Abs. 2 SGB I eingeräumten Ermessens voll inhaltlich Rechnung zu tragen. Die vom Gesetzgeber geforderte sachgerechte Abwägung werde jedoch schon im Ausgangspunkt versäumt, wenn ohne Darlegung besonderer aus dem konkreten Sachverhalt sich ergebender Umstände die gesetzlichen Höchstgrenzen einer Auf- bzw. Verrechnung über längere Zeiträume maximal ausgeschöpft werden. Damit unterbleibe eine angemessene Erfassung und Gewichtung der berechtigten Interessen aufseiten des Leistungsempfängers. Darüber hinaus müsse eine sachgerechte Abwägung auch den insolvenzrechtlichen Wertentscheidungen Rechnung tragen. Der nationale und der europäische Gesetzgeber wollten insbesondere bei einer nicht grob verschuldeten Zahlungsunfähigkeit eine zeitliche Befristung der Heranziehung des Zahlungspflichtigen zur Schuldentilgung gewährleisten. Eine sachgerechte Umsetzung dieser gesetzgeberischen Wertentscheidungen bei der Ermessensausübung nach den §§ 51 , 52 SGB I habe zur Folge, dass mit zunehmendem Zeitablauf die Interessen des Beitragsschuldners an einer Verschonung vor weiteren Einbehalten zur Schuldentilgung an Gewicht gewönnen. Dies gelte in besonderem Maße, wenn die Schuldnerinteressen schon angesichts eines geringen oder fehlenden Verschuldens an der Zahlungsunfähigkeit tendenziell höher zu gewichten seien. Die insolvenzrechtlichen Möglichkeiten zu einer Restschuldbefreiung seien auch als Ausdruck eines solidarischen Ausgleichs zu verstehen, weshalb etwa die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte maßgeblich auf zugrunde liegende „alltägliche Risiken“ abstelle (Hinweis auf BT-Drs. 17/11268, S. 13). Im heutigen Wirtschaftsleben sehe sich ein Großteil der Bevölkerung der Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit, insbesondere für den Fall einer schicksalhaften Kumulation mehrerer Risiken, ausgesetzt. Nach den insolvenzrechtlichen Vorgaben sollten Schuldner zwar angemessen, zugleich aber auch in zeitlicher Hinsicht nicht über Gebühr in Anspruch genommen werden. Soweit der nationale (Hinweis auf BT-Drs. 17/11268, S. 13) und der europäische Gesetzgeber (Hinweis auf die Begründung in der Präambel zur Richtlinie (EU) 2019/1023 vom 20.06.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 – Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) mit den insolvenzrechtlichen Reformen den Bürgern auch mehr Mut zur Eingehung wirtschaftlicher Risiken und zur Gründung selbstständiger Unternehmen machen wollten, entspreche dies auch den eigenen wohlverstandenen Interessen der Sozialleistungsträger, denn eine Belebung der Wirtschaft gehe regelmäßig mit steigenden Beitragseinnahmen einher. Bei Ausübung des durch die §§ 51 , 52 SGB I eingeräumten Ermessens sei mithin vonseiten der Sozialleistungsträger bei der Durchsetzung von Forderungen, die in lange zurückliegenden Zeiträumen (im vorliegenden Fall mehr als zehn Jahre) begründet worden seien, besonders sorgfältig zu prüfen, ob überhaupt noch eine Auf- bzw. Verrechnung angezeigt sei und inwieweit dabei auch eine Unterschreitung der bei sonstigen Forderungen zu beachtenden Pfändungsfreigrenzen noch angemessen und nicht mit unzumutbaren Härten verbunden sei. Damit werde zugleich dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen (Hinweis auf BVerfG, Beschl. v. 12.12.2006 - 1 BvR 2576/04 Rn 60 - BVerfGE 117, 163). Der nationale und der europäische Gesetzgeber hätten mit wiederholten Reformen zum Insolvenzrecht zum Ausdruck gebracht, dass Bürger nicht für einmal eingegangene Verpflichtungen über Jahrzehnte hinweg uneingeschränkt bis zur Grenze der pfändbaren Einkünfte haftbar zu machen seien. Der Gesetzgeber wolle, dass ein wirtschaftliches Scheitern für den Schuldner kein Stigma mehr sein solle, zumal eine Vielzahl der von einer Insolvenz Betroffenen als „Opfer moderner biographischer Risiken“ anzusehen sei, weil sie durch alltägliche Risiken wie Arbeitslosigkeit, gescheiterte Selbstständigkeit, Krankheit oder Scheidung bzw. Trennung in die Überschuldung gerieten. Die Möglichkeit einer „schnellen Entschuldung“ werde vom Gesetzgeber für alle natürlichen Personen sowohl in sozialpolitischer als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht für sinnvoll erachtet (Hinweis auf BT-Drs. 17/11268 zum Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, S. 13). Dies gelte umso mehr, als diese insolvenzrechtlichen Zielvorgaben durchaus Elemente eines sozialen Schutzes aufweisen (BVerfG, Beschl. v. 14.01.2004 - 1 BvL 8/03 - NJW 2004, 1233). Hier sei der 75jährige Kläger bereits im Zeitpunkt der streitbetroffenen Verrechnungen seit mehr als zehn Jahren im Altersrentenbezug gestanden. Obwohl die Rentenleistungen von vornherein der Höhe nach sehr bescheiden gewesen seien, habe die Beklagte bereits vor der streitbetroffenen weiteren Verrechnungsentscheidung über mehr als zehn Jahre hinweg ganz erhebliche Teile der Rentenzahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 30.000 Euro zur Tilgung von Verbindlichkeiten des Klägers bei anderen Sozialleistungsträgern einbehalten. Dabei werde auch von den beteiligten Sozialleistungsträgern nicht in Abrede gestellt, dass der Kläger Anfang 2008 ohne greifbares Verschulden und damit letztlich schicksalhaft in die Zahlungsunfähigkeit geraten sei. Bei dieser Ausgangslage stelle es eine besondere, unzumutbare Härte dar, dass eine Verrechnung von erheblichen Teilen der Altersrentenansprüche ungeachtet der bereits vorausgegangenen über viele Jahre hinweg fortgesetzten Verrechnungen weiter fortgeführt worden sei. Mit diesen besonderen Umständen habe sich die Beklagte bei der Begründung ihrer Ermessensentscheidung nicht in einer inhaltlich nachvollziehbaren Weise auseinandergesetzt. Sie habe in den Ermessenserwägungen nicht einmal ausgewiesen, dass zuvor bereits über viele Jahre hinweg Rentenzahlungen zur Tilgung von Zahlungsrückständen bei anderen Sozialleistungsträgern einbehalten worden seien. Die Formulierung in dem Widerspruchsbescheid, wonach im vorliegenden Fall keine „besonderen Gründe“ vorlägen, welche die Beklagte ausnahmsweise „zwingen“ würden, von der Verrechnung abzusehen, bringe den Willen der Beklagten zur Nichtausschöpfung des gesetzlichen Ermessensspielraums zum Ausdruck. Diese habe im Sinne eines Ermessensfehlgebrauchs verkannt, dass gerade in Fallgestaltungen der vorliegenden Art der Gesetzgeber mit der Einräumung von Ermessen Raum für eine ungekürzte oder jedenfalls für eine deutlich mehr als nur hälftige Auszahlung der Rentenbezüge habe eröffnen wollen. Im Ergebnis liege damit eine so außergewöhnliche Härte für den Kläger vor, dass das Ermessen der Beklagten im Sinne eines gänzlichen Absehens von weiteren Verrechnungen mit Forderungen von Sozialleistungsträgern im Zusammenhang mit dem Insolvenzereignis von 2008 reduziert gewesen sei.
- C.
Kontext der Entscheidung Verrechnungsentscheidungen nach § 52 SGB I stehen nicht im Fokus der forensischen Praxis der Sozialgerichtsbarkeit. Zwar eröffnet § 52 SGB I einige dogmatisch interessante Fragestellungen, etwa die nach dem Rechtscharakter des Verhältnisses zwischen den beiden Sozialleistungsträgern (öffentlich-rechtlicher Verrechnungsvertrag i.S.d. § 53 SGB X; so Lilge in: Lilge/Gutzler SGB I, 5. Aufl. 2019, § 52 Rn. 7 b ff.; öffentlich-rechtliches Auftragsverhältnis Mrozynski in: Mrozynski, SGB I, 7. Aufl. 2024, § 52 Rn. 3). Eines der wesentlichen Grundprobleme des Verrechnungsrechts betrifft die Frage, ob dem den Verwaltungsakt erlassenden Sozialleistungsträger ein echtes Ermessen hinsichtlich des Ob des Erlasses eines Verrechnungsverwaltungsakts zusteht (eingehende Darstellung bei R. Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 51 Rn. 65 ff.). Das BSG hatte in früheren Entscheidungen das „kann“ i.S.d. § 52 SGB I als reines „Kompetenz-Kann“ ausgelegt, weil § 52 SGB I erst die Berechtigung für den den Verwaltungsakt erlassenden Träger eröffne, dem Grunde nach überhaupt eine Verrechnung vorzunehmen (BSG, Urt. v. 26.09.1991 - 4/1 RA 33/90 Rn. 21 f. - SozR 3-1200 § 52 Nr 2). Demgegenüber geht die wohl herrschende Meinung davon aus, dass es sich bei den §§ 51 , 52 SGB I um Ermessensvorschriften handelt und die einseitig durch Verwaltungsakt geregelte Verrechnung im pflichtgemäßen Ermessen des sie durchführenden Leistungsträgers steht. Dieser hat somit ein Entscheidungs- und Auswahlermessen („Ob“ und „Wie“), was auch das Landessozialgericht im vorliegenden Fall so entschieden hat, wobei es sich lediglich auf die Rechtsprechung des BSG bezog (Hinweis insbes. auf BSG, Urt. v. 07.02.2012 - B 13 R 85/09 R Rn. 65 - SozR 4-1200 § 52 Nr 5). Mit der Einräumung „echten Ermessens“ stehen dem die Verrechnung durch Verwaltungsakt regelnden Leistungsträger damit breite Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich des „Ob“ und des Umfangs zur Verfügung. Letztlich hat dies der Gesetzgeber in den Materialien zum SGB I auch klar zum Ausdruck gebracht, wenn es dort heißt: „Der Leistungsträger hat bei der Ausübung seines Ermessens, ob und in welchem Umfang er aufrechnet, auch den Zweck der einzelnen Sozialleistung zu berücksichtigen“ ( BT-Drs. 7/868; vgl. auch Siefert in: Beck OGK SGB I, § 52 Rn. 21 Stand 15.11.2023). Insofern enthält das Urteil also nur einen weiteren Baustein zur Zementierung der herrschenden Meinung, die eine umfängliche und vollinhaltliche Ermessensentscheidung des die Verrechnung aussprechenden Leistungsträgers gegenüber dem Bürger fordert. Allerdings geht das LSG Celle-Bremen in seiner Ermessensprüfung sehr weit. Ohne den Begriff der „Ermessensreduzierung auf null“ (siehe nur Spellbrink in: Beck OGK, SGB I, § 39 Rn. 19, Stand 01.12.2018) ausdrücklich zu erwähnen, geht es faktisch davon aus, dass hier von vorneherein nur eine einzige Entscheidung der Behörde richtig gewesen sein kann, nämlich der vollständige Verzicht auf die Forderung. Zutreffend ist, dass der Kläger vorliegend bereits ein höheres Lebensalter erreicht hatte und schon seit geraumer Zeit mit Verrechnungen seiner „eher bescheidenen“ (so das Landessozialgericht) Altersrente belastet worden war. Auch sprechen die Umstände der Geltendmachung der Rückstände – der Unfallversicherungsträger hatte jahrelang die Forderung ruhen lassen, was an eine Verwirkung denken lässt – für den Kläger. Allerdings hat das LSG Celle-Bremen sich insbesondere auf den Aspekt der „unverschuldeten Insolvenz“ gestützt. Die Insolvenz eines Unternehmers wird als (unvermeidbarer?) Schicksalsschlag interpretiert, der einem Bürger nicht lebenslang anhaften dürfe. Ob jede „Pleite“ wirklich nur Ausfluss schicksalhafter biographischer Risiken darstellt, mag trefflich bezweifelt werden. Soweit dem Urteil zumindest konkludent der Tenor zugrunde liegt, für Insolvenzen habe man grundsätzlich nicht zu haften (das sei auch der Wille des europäischen Gesetzgebers etc.), so hätte dieser Gesichtspunkt auch insolvenzrechtlich im Urteil besser belegt werden müssen. Nimmt man alle Aspekte zusammen – Lebensalter des Klägers, Höhe der Altersrente, jahrelanges Nichtbetreiben der Forderung –, so ist die Entscheidung sicher gut vertretbar. Sie sollte aber nicht in dem Sinne interpretiert werden, dass insolvente Schuldner unter Generalamnestie bei Verrechnungsentscheidungen zu stellen wären.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Geht man so weit wie das LSG Celle-Bremen, so stellt sich in der Verwaltungspraxis wohl die Frage vertieft, inwieweit der um die Verrechnung ersuchte Verwaltungsträger berechtigt ist, gegenüber dem die Verrechnung fordernden Träger die Verrechnung abzulehnen. Geht man – wie hier – von einer Ermessensreduzierung auf null aus, so müsste der beklagte Rentenversicherungsträger bei einer Bindung an das Verrechnungsbegehren ja sehenden Auges eine rechtswidrige Verrechnung durchführen (oder einen Verwaltungsakt erlassen, in dem die Verrechnung abgelehnt wird?). Nicht vollständig geklärt ist, inwieweit der ersuchte Leistungsträger aufgrund der Ermächtigung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, die Verrechnung durchzuführen (eingehend R. Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 52 34 ff. m.w.N.). Nach Auffassung des BSG handelt es sich hier nicht um eine Ermessensentscheidung des ersuchten Trägers, weil der Begriff „kann“ in § 52 SGB I nicht als „Ermessens-Kann“, sondern als „Kompetenz-Kann“ auszulegen ist, durch das erst die Befugnis eines Leistungsträgers dem Grunde nach eingeräumt wird, überhaupt die Verrechnung durchzuführen (BSG, Urt. v. 24.07.2003 - B 4 RA 60/02 R Rn. 32 - SozR 4-1200 § 52 Nr 1). § 52 SGB I soll dem die Verrechnung erklärenden Leistungsträger nicht das Recht einräumen, eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang die Verrechnung zu erklären ist, zumal sich das Ermessen typischerweise auf das Handeln der Verwaltung im Verhältnis zum Bürger, nicht jedoch auf die Zusammenarbeit der Leistungsträger untereinander bezieht (BSG, Urt. v. 26.09.1991 - 4/1 RA 33/90 Rn. 22 - SozR 3-1200 § 52 Nr 2). Nach R. Klein (in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 52 Rn. 35) lasse sich ein vertretbarer Konsens auf der Basis finden, dass der ersuchte Versicherungsträger das Verrechnungsersuchen grundsätzlich annehmen müsse, wenn nicht gewichtige Gründe dagegensprechen, so wenn die Verrechnung zum Beispiel gesetzeswidrig wäre (oder der Bürger doch hilfebedürftig im Sinne des SGB XII würde, so Siefert in: BeckOGK-SGB I, § 52 Rn. 14). Ob hier eine Verrechnung vom Rentenversicherungsträger hätte abgelehnt werden dürfen, bleibt eine offene, noch zu klärende Frage.
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