Geltungsbereich einer VorfahrtstraßeLeitsätze 1. Das Zeichen 306 (Vorfahrtsstraße) zeigt an, dass Vorfahrt besteht für den ganzen Verlauf der Vorfahrtsstraße bis zum nächsten Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren), 206 (Halt. Vorfahrt gewähren.) oder 307 (Ende der Vorfahrtstraße), ohne Rücksicht darauf, ob es an jeder Kreuzung oder Einmündung wiederholt wird, und darauf, ob in der anderen Straße negative Vorfahrtszeichen angebracht sind. 2. Das Zeichen 310 (Ortstafel Vorderseite) besagt, dass ab diesem Punkt eine geschlossene Ortschaft beginnt und in der Folge die (an anderer Stelle aufgestellten) für den Verkehr innerhalb geschlossener Ortschaften bestehenden Vorschriften gelten. Ein Regelungsinhalt dahingehend, dass vor Beginn der Ortschaft angeordnete Vorfahrtsregelungen aufgehoben werden und folgend die ohne Beschilderung geltende Vorfahrtsregel „rechts vor links“ gilt, lässt sich dem nicht entnehmen. 3. Im Falle des Aufstellens eines Verkehrszeichens führt die rein örtliche Unzuständigkeit der aufstellenden Behörde nicht zur Nichtigkeit der Anordnung. - A.
Problemstellung Das LG Saarbrücken musste sich als Berufungsgericht mit der Wirkung und Wirksamkeit von Vorfahrtregelungen auseinandersetzen und hat dabei eine wichtige Abgrenzung zwischen Fortdauer der Vorfahrtstraße und Beginn einer neuen Ortschaft getroffen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Klägerin, Kaskoversicherung des geschädigten, vom Zeugen Z. gefahrenen Fahrzeuges, nimmt die Beklagten, die Beklagte zu 2) als Fahrerin und die Beklagte zu 1) als Haftpflichtversicherung des unfallgegnerischen Fahrzeuges, auf Schadensersatz aufgrund eines Unfallereignisses in Anspruch. Die Beklagte zu 2) befuhr die X-Straße in Fahrtrichtung, der Zeuge Z. die Y-Straße, aus Sicht der Beklagten zu 2) von rechts kommend in der Absicht, nach links in die X-Straße abzubiegen. Es kam sodann im unbeschilderten Kreuzungsbereich zur Kollision der Fahrzeuge, wobei beide Fahrzeuge beschädigt wurden. Die Klägerin zahlte im Rahmen des Kaskovertrages Reparaturkosten sowie Sachverständigenkosten. Mit der Klage begehrte die Klägerin aus übergegangenem Recht Ersatz dieser Kosten. Die Klägerin behauptete, die Beklagte zu 2) habe das Vorfahrtsrecht des von rechts kommenden Zeugen Z. missachtet. Da der Kreuzungsbereich unbeschildert sei, gelte die Vorfahrtsregelung „rechts vor links“. Die Beklagte zu 2) habe mit ihrem Fahrzeug vor Erreichen des Kreuzungsbereichs ein Ortseingangsschild (Ortstafel) erreicht, womit das Verkehrszeichen 306 aufgehoben worden sei und die für den Verkehr innerhalb geschlossener Ortschaften bestehenden Vorschriften Geltung erlangt haben (Abschnitt 2 zu 5 und 6 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO). Selbst wenn der Beklagten zu 2) ein Vorfahrtsrecht zugestanden hätte, treffe diese ein Mitverschulden, da das von dem Zeugen Z. geführte Fahrzeug aufgrund uneingeschränkter Sichtverhältnisse in der Annäherung sichtbar gewesen sei und die Kollision bei Verringerung der Geschwindigkeit bzw. Einleitung einer Bremsung hätte vermieden werden können, während sie für den Zeugen Z. unvermeidbar gewesen sei. Die Beklagten waren der Auffassung, die Beklagte zu 2) sei gegenüber dem Zeugen vorfahrtberechtigt gewesen. Zu Beginn der X-Straße befinde sich das Verkehrszeichen 306 (Vorfahrtsstraße) und werde in Höhe von Abzweigungen jeweils wiederholt. Auch am Kollisionsort sei die Vorfahrt noch durch dieses Verkehrszeichen geregelt gewesen. Zwar sei unmittelbar im streitgegenständlichen Einmündungsbereich ein solches nicht aufgestellt, dies führe jedoch nicht zur Anwendung der Vorfahrtsregelung „rechts vor links“. Das Amtsgericht hatte der Klage vollumfänglich stattgegeben. Die Vorfahrtsschilder seien noch auf dem Gebiet der Stadt S. aufgestellt gewesen und haben daher auf dem Gebiet der Gemeinde G. keine Bedeutung mehr. Die Gemeinden seien im Saarland als Straßenbehörden gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 3 StVZustG zuständig für die Regelung der Vorfahrt an Straßenkreuzungen und Einmündungen abweichend von der Grundregel „rechts vor links“. Hiervon habe die Gemeinde G. auf ihrem Gebiet jedoch keinen Gebrauch gemacht, so dass die Grundregel gelte. Daher habe die Beklagte zu 2) die Vorfahrt des Zeugen verletzt; ein Mitverschulden treffe diesen nicht. Das LG Saarbrücken hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zu Unrecht habe das Amtsgericht einen Verstoß der Beklagten zu 2) gegen § 8 Abs. 1 StVO und damit die Alleinhaftung der Beklagten angenommen. Denn es verhalte sich vorliegend so, dass die Beklagte zu 2) es gewesen sei, die sich auf der vorfahrtsberechtigten Straße befunden habe. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO gelte die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ nicht, wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt sei. Das Zeichen 306 („Vorfahrtsstraße“) gewähre die Vorfahrt ohne Rücksicht darauf, ob es an jeder Kreuzung oder Einmündung wiederholt werde. Nach Abschnitt 2 zu 5 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO besage das Zeichen 310 (Ortstafel Vorderseite), dass ab diesem Punkt eine geschlossene Ortschaft beginne. In der Folge gelten dann die (an anderer Stelle aufgestellten) für den Verkehr innerhalb geschlossener Ortschaften bestehenden Vorschriften. Ein Regelungsinhalt dahingehend, dass vor Beginn der Ortschaft angeordnete Vorfahrtsregelungen aufgehoben werden, lasse sich dem nicht entnehmen. Denn eine spezielle Regelung, wonach in geschlossenen Ortschaften die Vorfahrtsregelung „rechts vor links“ gelten soll, existiere – anders als beispielsweise für die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h (§ 3 Abs. 3 Ziffer 1 StVO) – nicht. Wann für Verkehrsteilnehmer die Regel „rechts vor links“ gelte, richte sich vielmehr nach der allgemeinen Norm des § 8 Abs. 1 StVO, wonach dies u.a. nicht gelte, wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt sei (Zeichen 205, 206, 301, 306). Das Zeichen 306 (Vorfahrtsstraße) zeige nach Abschnitt 1 zu 2 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO an, dass Vorfahrt bestehe bis zum nächsten Zeichen 205 „Vorfahrt gewähren“, 206 „Halt. Vorfahrt gewähren.“ oder 307 „Ende der Vorfahrtstraße“. Unstreitig sei ein die Vorfahrt aufhebendes Zeichen bis zum Kollisionsort nicht vorhanden gewesen, so dass das Zeichen 306 zugunsten der Beklagten zu 2) auch dort noch fortgegolten habe. Auch sei der mit Aufstellung des Zeichens 306 verbundene Verwaltungsakt nicht gemäß § 44 Abs. 2 Nr. 3 SVwVfG nichtig. Die Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit habe in der Regel die Anfechtbarkeit, lediglich in Ausnahmefällen die Nichtigkeit zur Folge. Im Falle des Aufstellens eines Verkehrszeichens sei weder das unbewegliche Vermögen noch ein ortsgebundenes Recht oder Rechtsverhältnis betroffen, eine rein örtliche Unzuständigkeit führe daher nicht zur Nichtigkeit der Anordnung.
- C.
Kontext der Entscheidung Das LG Saarbrücken hat hier mit viel StVO-Grundlagenarbeit eine klare und gut lesbare Entscheidung zur Vorfahrtregelung getroffen. Auszugehen ist von § 8 StVO als Grundnorm, der die Vorfahrt des von rechts Kommenden einschränkt, wenn Beschilderung i.S.d. § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVO vorhanden ist. Erfolgt – wie hier – eine verkehrsbehördliche Anordnung durch Zeichen 306, gilt die Vorfahrt bis zum nächsten Wartezeichen 205, 206 oder Zeichen 307 ohne Rücksicht darauf, ob es an jeder Kreuzung wiederholt ist und ob die einmündenden Straßen durch ein Warteschild gekennzeichnet sind (Grabow in: BeckOK StVR, § 8 StVO Rn. 12; BGH, Urt. v. 21.12.1976 - VI ZR 257/75). Beginnt im Verlauf einer Vorfahrtstraße eine neue Ortschaft, die durch Zeichen 310 (Ortstafel Vorderseite) gekennzeichnet ist, lässt das die bis dahin geltende Vorfahrtsregelung nicht entfallen. Sie begründet allenfalls einen Hinweis auf die in § 3 Abs. 3 StVO vorhandene Geschwindigkeitsregelung, enthält aber selbst keine solche (Friedrich in: BeckOK StVR, § 42 StVO Rn. 12). Das heißt: Ein einziges Zeichen 306 gewährt die Vorfahrt für den ganzen Verlauf der Vorfahrtsstraße, welche in der Regel dem natürlichen Straßenverlauf folgen soll (OLG Bamberg, Urt. v. 13.07.1976 - 5 U 46/76). Für die Geltung des Zeichens 306 ist es zudem ohne Belang, ob in der anderen Straße negative Vorfahrtszeichen angebracht sind (Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 8 StVO Rn. 19). Auch dass den zuständigen Behörden durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vorgeschrieben wird, an jeder Kreuzung und Einmündung (auch) das Zeichen 205 oder 206 anzubringen (VwV-StVO, zu § 42 Richtzeichen, zu den Zeichen 306 und 307, Rn. 3), ändert bei Fehlen einer solchen Beschilderung nichts an der Fortgeltung der Regelung des Zeichens 306. Diese doppelte Beschilderung ist nicht „konstitutiv“, sondern nur aus Sicherheitsgründen vorgeschrieben (BGH, Urt. v. 21.12.1976 - VI ZR 257/75). Die Fortdauer der Vorfahrtregelung ergibt sich auch aus der VwV-StVO: Als Vorfahrtstraßen sollen nur Straßen gekennzeichnet sein, die über eine längere Strecke die Vorfahrt haben und an zahlreichen Kreuzungen bevorrechtigt sind. Dann sollte die Straße so lange Vorfahrtstraße bleiben, wie sich das Erscheinungsbild der Straße und ihre Verkehrsbedeutung nicht ändern. Bundesstraßen, auch in ihren Ortsdurchfahrten, sind in aller Regel als Vorfahrtstraßen zu kennzeichnen. Innerhalb geschlossener Ortschaften gilt das auch für sonstige Straßen mit durchgehendem Verkehr (VwV-StVO, zu § 8 Vorfahrt, Rn. 4, 15-18). Schließlich musste sich das LG Saarbrücken noch mit der Frage der möglichen Nichtigkeit des Zeichens 306 auseinandersetzen. Dieser Einwand ist jedoch erwartbar untauglich. Ein Verkehrszeichen als Verwaltungsakt in Form der Allgemeinverfügung ist natürlich nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen nichtig, im Übrigen allenfalls rechtswidrig und damit anfechtbar und bis zum verwaltungsgerichtlichen Ergebnis von den Verkehrsteilnehmern so zu beachten, wie es sich eben darstellt. Insbesondere die (mögliche) Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit hat in der Regel die Anfechtbarkeit, lediglich in Ausnahmefällen die Nichtigkeit zur Folge. Nur für die Angelegenheiten, die sich auf unbewegliches Vermögen oder ein ortsgebundenes Recht oder Rechtsverhältnis i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 SVwVfG (wortgleich mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) beziehen, ist die Nichtigkeitsfolge vorgesehen, wenn der Verwaltungsakt durch eine örtlich unzuständige Behörde erlassen wird (Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2022, § 44 Rn. 136, 137). Das unbewegliche Vermögen umfasst die in § 864 ZPO genannten Gegenstände, also Grundstücke und Berechtigungen, für welche die sich auf Grundstücke beziehenden Vorschriften gelten (z.B. Erbbaurecht, Wohnungs- und Bergwerkseigentum). Unter den ortsgebundenen Rechten sind die sog. radizierten Realrechte zu verstehen, d.h. an ein bestimmtes Grundstück geknüpfte Befugnisse zur Ausübung eines Gewerbes oder ortsbezogene Genehmigungen (M. Ronellenfitsch/L. Ronellenfitsch in: BeckOK VwVfG, § 3 Rn. 7). Im Falle des Aufstellens eines Verkehrszeichens sind aber weder das unbewegliche Vermögen noch ein ortsgebundenes Recht oder Rechtsverhältnis betroffen (Friedrich in: BeckOK StVR, § 39 StVO Rn. 39). Infolgedessen ist im Rahmen der Haftungsabwägung nach den §§ 7, 17, 18 StVG grundsätzlich von der Alleinhaftung des wartepflichtigen Zeugen auszugehen (Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 8 StVO Rn. 27).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Es schadet nie, sich mit den Basics des Straßenverkehrs zu befassen: Wann gilt welches Verkehrszeichen, für wie lange gilt es und welche Auswirkung hat das Überschreiten einer Gemeindegrenze während der Fahrt? Gerade die gerne ins Spiel gebrachte Nichtigkeit von Verkehrszeichen ist in den meisten Fällen – auch im Ordnungswidrigkeitenbereich – unbehelflich. Auch im Hinblick auf Umfang und Geltung einer Vorfahrtstraße hatte kürzlich das KG mit Beschluss vom 28.05.2024 (3 ORbs 83/24, 3 ORbs 83/24 - 122 SsBs 13/24 - NZV 2024, 606) festgestellt, dass man innerorts bei Befahren einer Vorfahrtstraße nicht mit Tempo-30-Zonen rechnen muss.
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung Eine Besonderheit des Falles war noch, dass das vom Zeugen gesteuerte Fahrzeug in Frankreich zugelassen war. Zutreffend hat das Amtsgericht deshalb angenommen, dass die behauptete Forderung des Versicherungsnehmers grundsätzlich gemäß Art. L121-12 Abs. 1 Code des assurances auf die Kaskoversicherung als Klägerin übergegangen ist und dass deutsches materielles Schadensersatzrecht anwendbar ist (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 20.02.2014 - 4 U 391/12).
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