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Anmerkung zu:OLG Brandenburg 12. Zivilsenat, Urteil vom 14.12.2023 - 12 U 107/23
Autor:Herbert Lang, RA
Erscheinungsdatum:03.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 7 StVG, § 823 BGB, § 5 StVO, § 9 StVO, § 254 BGB, § 21a StVO, § 21 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 13/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Lang, jurisPR-VerkR 13/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Unfall zwischen Linksabbieger und Überholer: Haftungsabwägung und Beurteilung des Mitverschuldens eines Motorradfahrers wegen Nichttragens von Schutzkleidung



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Ein vom Fahrbahnrand kommender Linksabbieger haftet wegen Verstoßes gegen die doppelte Rückschaupflicht zu 2/3 gegenüber einem Überholer in unklarer Verkehrslage.
2. Bei einer Kollision mit einem Überholer spricht gegen den Linksabbieger ein von ihm zu widerlegender Anscheinsbeweis.
3. Das Nichttragen von Schutzschuhen begründet mangels eines allgemeinen Verkehrsbewusstseins in der Bevölkerung keine Mithaftung von Motorradfahrern.



A.
Problemstellung
Kollisionen zwischen Linksabbiegern und zeitgleich Überholenden sind eine der häufigsten Konstellationen von Unfällen im Straßenverkehr. Sie unterscheiden sich im Detail oft nur in Nuancen, so z.B. hinsichtlich der Geschwindigkeiten und Abstände der Fahrzeuge. Wichtig bei der Beurteilung ist insbesondere, ob der Abbiegende rechtzeitig geblinkt und sich frühzeitig links eingeordnet hat. Auf diese Frage geht die vorliegende Entscheidung ebenso ein wie auf die praxisrelevante Frage, ob sich eine Mithaftung von Motorradfahrern daraus ergibt, dass sie keine spezielle Schutzkleidung tragen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger macht insbesondere Schmerzensgeld nach dem Verkehrsunfall vom 26.02.2019 geltend. Dabei kollidierte er als Motorradfahrer innerorts mit dem PKW der Beklagten, als sich diese vom Parkplatz kommend in der gleichen Fahrtrichtung in den Straßenverkehr einreihen wollte, um danach zum Wenden in eine Grundstückseinfahrt einzubiegen. Der nur mit leichter Freizeitbekleidung und mit losen Gartenclogs bekleidete Kläger erlitt diverse Abschürfungen am Unterschenkel, Prellungen des Knies und mehrere Zehenfrakturen, die eine teilweise Amputation erforderlich machten. Der Geschädigte hat weiterhin Schmerzen beim Stehen und Gehen sowie dauerhafte Bewegungseinschränkungen der Zehen.
Der Kläger trug vor, die Beklagte sei ohne zu blinken vom rechten Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr eingefahren und danach direkt nach links abgebogen. Die Beklagte hielt dem entgegen, sie sei schon vor der Kollision aus der Parktasche ausgefahren, sei bereits eine gewisse Strecke auf der Straße gefahren und habe erst nach ca. 20 Metern nach links in ein Grundstück einbiegen wollen.
Der Versicherer der Schädigerin zahlte außergerichtlich auf Basis einer Haftungsquote von 50% ein Schmerzensgeld von 3.000 Euro.
Das LG Potsdam entschied auf eine Haftung der Beklagten von 2/3, so dass das Schmerzensgeld 5.000 Euro betrug.
Die Berufung des Klägers hatte hinsichtlich der Haftungsquote keinen Erfolg, allerdings hat das OLG Brandenburg ein etwas höheres Schmerzensgeld zugesprochen.
Die Beklagte hafte für die Folgen des Unfalls aus § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB zu 2/3, beide Parteien haben nicht die gebotene Sorgfalt nach dem Maßstab eines Idealfahrers beachtet.
Die Beklagte habe beim Ausparken ihres PKW den fließenden Verkehr nicht beachtet, mithin gegen ihre doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 StVO verstoßen. Das herannahende Motorrad sei für sie auf der einsehbaren Straße gut erkennbar gewesen, verstärkend komme hinzu, dass das Fahrverhalten des Klägers Anlass gab, das Ausparken abzubrechen. Die Beweisaufnahme habe weiter ergeben, dass sie durchgehend nach links geblinkt habe, obwohl das beabsichtigte weitere Abbiegen ein zweimaliges Blinken mit deutlichem Abbrechen dazwischen erfordert hätte (Burmann in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, § 9 StVO Rn. 12). Dem Verstoß komme besonderes Gewicht zu, da die Beklagte gemäß § 9 Abs. 5 StVO besonders sorgfältig habe fahren müssen, da sie nach dem Ausparken in einer Grundstückseinfahrt wenden wollte. In der Situation der Kollision eines überholenden KFZs spreche ohnehin immer ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Linksabbiegers, mithin hier der Beklagten (OLG München, Urt. v. 25.04.2014 - 10 U 1886/13).
Die Haftung des Klägers ergebe sich aus seinem Überholen bei unklarer Verkehrslage aus § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO. Eine solche sei gegeben, wenn nach objektiven Maßstäben nicht beurteilt werden könne, wie sich der Vorausfahrende in der konkreten Situation verhalte, eine abstrakte Gefahrenlage reiche allerdings nicht aus (OLG Karlsruhe, Urt. v. 10.09.2018 - 1 U 155/17 - RuS 2019, 405; OLG Thüringen, Urt. v. 28.10.2016 - 7 U 152/16 - ZfSch 2017, 317). Die Unklarheit der Verkehrssituation ergebe sich vorliegend daraus, dass die Beklagte den Blinker ihres Fahrzeugs auch nach Einfahren auf die Straße dauerhaft gesetzt hatte. Somit habe der Kläger angesichts deren sehr langsamen Fahrweise nicht davon ausgehen dürfen, dass sie lediglich vergessen habe, ihn auszuschalten. Da gerade die Zeit des Schulschlusses gewesen sei, habe der Kläger mit Situationen rechnen müssen, die besondere Aufmerksamkeit und Rücksicht erfordern.
Ein darüber hinausgehendes Mitverschulden ergebe sich nicht unter dem Aspekt einer nicht angemessenen Fußbekleidung. Nach überwiegender Rechtsprechung gebe es insoweit nicht das erforderliche Sicherheitsbewusstsein bei Motorradfahrern (BGH, Urt. v. 30.01.1979 - VI ZR 144/77 - VersR 1979, 369; OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.09.2019 - 1 U 82/18 - RuS 2020, 478; OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.04.2013 - 3 U 1897/12 - VersR 2013, 1016; OLG München, Urt. v. 19.05.2017 - 10 U 4256/16 - NJW 2017, 2838; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.02.2006 - 1 U 137/05 - NZV 2006, 415; OLG Brandenburg, Urt. v. 23.07.2009 - 12 U 29/09 - VersR 2009, 1284).
Die Abwägung der Verursachungsanteile der Beteiligten ergebe danach eine überwiegende Haftung der Beklagten von 2/3.
Die Höhe des Schmerzensgeldes betrage angesichts der erlittenen Verletzungen des Klägers unter Berücksichtigung der vergleichbaren Rechtsprechung zu Zehenverletzungen (inkl. evtl. Indexierungen) 6.000 Euro (OLG Köln, Urt. v. 15.03.1989 - 13 U 257/88 - VersR 1989, 637; OLG Zweibrücken, Urt. v. 05.07.1990 - 7 U 181/89; KG, Urt. v. 10.04.1978 - 12 U 3829/77; OLG Hamm, Urt. v. 29.10.2007 - 6 U 34/07).


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung überzeugt mit ihrer Beurteilung der Haftung der Beteiligten, die sich beide nicht verkehrsgerecht verhalten haben. Die Beklagte hätte nach dem Anfahren vom rechten Fahrbahnrand vor dem beabsichtigten Linksabbiegen zum Wenden auch auf den gleichgerichteten Verkehr achten müssen, insbesondere hat sie nicht die ihr obliegende doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 StVO beachtet. Das von hinten nahende Motorrad des Klägers war für sie erkennbar, ersichtlich reduzierte er auch nicht die Geschwindigkeit um ihr das Abbiegen zu ermöglichen. Irritierend war auch, dass sie den Blinker nach dem Ausparken durchgehend gesetzt ließ, wodurch der Eindruck entstehen konnte, sie habe vergessen, ihn auszuschalten. Auf der anderen Seite hat der Kläger nach § 5 Abs. 3 Satz 1 StVO bei einer unklaren Verkehrslage überholt, da in der Situation unklar war, wie sich die langsam vor ihm fahrende, blinkende Beklagte verhalten wird.
In der Abwägung der Verursachungsbeiträge hat das OLG Brandenburg hier dem Verstoß der Beklagten richtigerweise ein höheres Gewicht beigemessen als dem Überholen des Klägers, da sie vom Parkplatz kommend nach links abbiegen wollte, um zu wenden. Damit liegt es auf einer Linie mit der weiteren Rechtsprechung zu Fällen, in denen der Abbieger erst kurz vorher auf die Fahrbahn eingebogen ist (z.B. BGH, Urt. v. 16.10.1962 - VI ZR 254/61 - VersR 1963, 85; OLG Bremen, Urt. v. 13.02.2001 - 3 U 53/00 - NZV 2001, 345). Grundsätzlich kommt es bei Kollisionen zwischen einem Linksabbieger und einem Überholenden maßgeblich auf den jeweiligen Einzelfall an, weswegen die ausgeurteilten Haftungsquoten nicht einheitlich sind (Übersichten bei Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 17. Aufl. 2022).
Von erheblicher Bedeutung ist insbesondere, ob der links Abbiegende rechtzeitig geblinkt hat. Hat er das getan, haftet der dies nicht beachtende Überholer in der Regel in höherem Maße, zum Teil wird auch auf eine hälftige Haftung entschieden (z.B. BGH, Urt. v. 11.04.1961 - VI ZR 119/60 - VersR 1961, 560; KG, Beschl. v. 06.02.2008 - 12 U 115/07 - NZV 2009, 38; OLG Brandenburg, Urt. v. 26.09.2001 - 14 U 24/01). Bei einem beabsichtigen Abbiegen auf ein Grundstück erhöht sich die Haftung des Abbiegers aufgrund seiner nach § 9 Abs. 5 StVO gesteigerten Sorgfaltspflichten auf 1/2 bis 2/3 (z.B. OLG Brandenburg, Urt. v. 14.12.2023 - 12 U 107/23; OLG Nürnberg, Urt. v. 14.12.2000 - 2 U 2634/00 - DAR 2001, 170; OLG Karlsruhe, Urt. v. 27.02.1987 - 10 U 57/86 - VersR 1988, 413). Hat der Linksabbiegende nicht rechtzeitig geblinkt, ergibt sich regelmäßig dessen volle Haftung (BGH, Urt. v. 13.06.1967 - VI ZR 12/66 - VersR 1967, 903; OLG München, Urt. v. 28.02.2014 - 10 U 3878/13 - RuS 2014, 471; OLG Düsseldorf, Urt. v. 02.04.2019 - 1 U 108/18 - RuS 2020, 101). Eine Mithaftung des Überholers ergibt sich allerdings, wenn er sich selbst verkehrswidrig verhalten hat, z.B. bei zu schnellem Fahren, Missachtung eines Überholverbotes oder dem Überholen einer Fahrzeugkolonne (BGH, Urt. v. 16.02.1955 - VI ZR 277/53 - VersR 1955, 213; OLG Schleswig, Beschl. v. 04.01.2024 - 7 U 141/23 - RuS 2024, 219; OLG Celle, Urt. v. 13.03.2024 - 14 U 122/23; OLG Köln, Urt. v. 18.12.1998 - 19 U 103/98 - NZV 1999, 333). Lässt sich das rechtzeitige Blinken nicht aufklären, wird zumeist auf eine Schadensteilung entschieden (OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.04.2018 - 1 U 86/17 - NZV 2019, 44; OLG Karlsruhe, Urt. v. 10.09.2018 - 1 U 155/17 - RuS 2019, 405; vgl. aber auch OLG Oldenburg, Urt. v. 16.12.2021 - 14 U 32/21; OLG München, Urt. v. 06.10.2021 - 10 U 1012/19 - NJW-RR 2022, 31).
Dazu noch ein paar Worte zu einigen aktuellen Entscheidungen. Das OLG Celle ist mit Urteil vom 13.03.2024 (14 U 122/23) zum Ergebnis gekommen, dass ein links abbiegendes Gespann von 9 Metern gegenüber einem trotz Verbots überholenden Motorrad jedenfalls mit der eingeklagten Quote von 50% haftet. Eine exakte Haftungsbeurteilung war dabei nicht erforderlich, aus meiner Sicht traf den Motorradfahrer eine Mithaftung von mindestens 1/3. Diskutabel ist das Urteil des LG Berlin vom 28.06.2023 (46 O 155/22), das eine volle Haftung eines links abbiegenden PKW gesehen hat, der als drittes Fahrzeug die vor ihm fahrenden zwei KFZ überholte. Richtig wäre aus meiner Sicht insoweit eine Mithaftung von 1/3 des bei unklarer Verkehrslage Überholenden sachgerecht gewesen. Gleiches gilt angesichts eines vorher erfolgten Blickkontaktes für einen PKW, der einen ohne Handzeichen links abbiegenden Radfahrer überholt hat, das OLG Schleswig hat jedoch am 15.11.2023 (7 U 106/23) auf dessen volle Haftung entschieden. Überzeugend ist die Beurteilung des AG Celle vom 11.10.2023 (110 C 510/23 - SVR 2024, 188), das bei einer Kollision eines in einer Spielstraße mit 10-12 km/h zu schnell fahrenden PKW und einem nach links in einen Parkplatz abbiegenden Fahrzeug eine hälftige Haftung sieht. Richtig ist schließlich auch die vom OLG Schleswig am 04.01.2024 (7 U 141/23 - RuS 2024, 219) entschiedene 100%-Haftung eines Linksabbiegers, der mit einem unter Einsatz von Blaulicht und Martinshorn überholenden Krankenwagen kollidierte (ebenso KG, Urt. v. 12.07.2010 - 12 U 177/09 - MDR 2011, 97).
Das OLG Brandenburg hat sich des Weiteren mit der praxisrelevanten streitigen Frage beschäftigt, ob das Nichttragen von Motorrad-Schutzkleidung ein Mitverschulden nach § 254 BGB begründet. Obwohl die erheblichen Fußverletzungen des Geschädigten darauf zurückzuführen waren, dass er nur Gartenclogs trug, hat der Senat das verneint. Er schließt sich der mit Urteil des OLG Celle vom 13.03.2024 (14 U 122/23) zum Tragen einer Motorradhose wieder bestätigten überwiegenden Auffassung an (vgl. z.B. OLG Nürnberg, Urt. v. 09.04.2013 - 3 U 1897/12 - VersR 2013, 1016; OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.09.2019 - 1 U 82/18 - RuS 2020, 478; OLG München, Urt. v. 19.05.2017 - 10 U 4256/16 - NJW 2017, 2838; a.A. OLG Brandenburg, Urt. v. 23.07.2009 - 12 U 29/09 - VersR 2009, 1284; LG Köln, Urt. v. 15.05.2013 - 18 O 148/08 - DAR 2013, 382). Es argumentiert dabei überzeugend mit der insoweit übertragbaren Entscheidung des BGH vom 17.06.2014 (VI ZR 281/13 - VersR 2014, 974) zum Tragen von Fahrradhelmen. Wie dort gilt auch hier, dass ein Mitverschulden zwar keine explizite gesetzliche Anordnung erfordert, aber ein allgemeines Verkehrsbewusstsein in der Bevölkerung. Ein solches ist hinsichtlich der Motorradkleidung unverändert nicht vorhanden. Zwar haben im Jahre 2022 immerhin 55,7% der motorisierten Zweiradfahrer ergänzend zum in § 21a Abs. 2 StVO vorgeschriebenen Helm Schutzkleidung getragen, nur bei 38,9% war diese allerdings einschließlich von Schutzschuhen vollständig (www.bast.de/DE/Publikationen/DaFa/2024-2023.html, zuletzt abgerufen am 26.06.2024). Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Quote bei Motorradfahrern sicherlich höher ist als bei den ebenfalls in der Statistik enthaltenen Leichtkrafträdern, reicht dieser Wert nicht zur Begründung einer Übung in der Bevölkerung (Lang, jurisPR-VerkR 24/2020 Anm. 2; vgl. auch Figgener/Quaisser, NJW-Spezial 2024, 298; Heß/Burmann, NJW-Spezial 2013, 331). Gerade der vorliegende Fall zeigt allerdings unabhängig von der rein juristischen Betrachtung, dass das Tragen von Schutzkleidung im Eigeninteresse eines jeden Motorradfahrers liegt (Jahnke, jurisPR-VerkR 21/2009 Anm. 1).
Abschließend ein kurzer Überblick zum Anlegen von Schutzkleidung in anderen Bereichen: Gesetzlich vorgeschrieben ist in § 21a Abs. 1, 2 StVO das Anlegen des Sicherheitsgurts im Auto (z.B. BGH, Urt. v. 28.02.2012 - VI ZR 10/11 - VersR 2012, 772; OLG Koblenz, Beschl. v. 07.01.2020 - 12 U 518/19; OLG München, Urt. v. 25.10.2019 - 10 U 3171/17) und des Schutzhelms beim Motorrad, Leichtkraftrad, aber auch den bauartbedingt bis zu 45 km/h fahrenden S-Pedelecs (LG Bonn, Urt. v. 11.12.2014 - 18 O 388/12 - DAR 2015, 340; Lang, jurisPR-VerkR 24/2020 Anm. 2). In allen anderen Konstellationen kommt es mangels einer gesetzlichen Regelung auf eine „allgemeinen Übung“ in der Bevölkerung an (BGH, Urt. v. 17.06.2014 - VI ZR 281/13 - VersR 2014, 974). Eine solche besteht bei „normalen“ Radfahrern und Pedelecs/E-Bikes auch im Jahre 2021 weiterhin nicht. Die Helmquote hat sich zwar seit dem der BGH-Entscheidung zugrunde liegenden Unfalljahr 2011 innerorts von 11% auf 40,3% im Jahre 2022 (www.bast.de/DE/Publikationen/DaFa/2024-2023.html, zuletzt abgerufen am 26.06.2024) deutlich erhöht, was jedoch für die Annahme eines allgemeinen Verkehrsbewusstseins noch nicht ausreicht (Vgl. OLG Nürnberg, Urt. v. 20.08.2020 - 13 U 1187/20 - NJW 2020, 3603; OLG Hamm, Beschl. v. 14.02.2023 - 7 U 90/22 - NJW-RR 2023, 880; OLG Hamm, Urt. v. 22.11.2022 - 7 U 8/22). Anders ist die Situation bei sportlichen Radfahrern oder Mountainbikern (Figgener/Quaisser, NJW-Spezial 2024, 298), bei denen das Helmtragen ausgeprägter ist (OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.06.2007 - 1 U 278/06 - NZV 2007, 614; OLG München, Urt. v. 03.03.2011 - 24 U 384/10; OLG Celle, Urt. v. 12.04.2014 - 14 U 113/13 - NZV 2014, 305).
Die weitere Entwicklung dazu ist abzuwarten, das Skifahren zeigt allerdings, dass sich eine „allgemeine Übung“ in der Bevölkerung ggf. schnell entwickeln kann. Da seit dem Althaus-Unfall im Jahre 2009 praktisch jeder Skifahrer einen Helm trägt, überzeugt die Bejahung einer Mithaftung durch das OLG München am 22.06.2012 (OLG München, Urt. v. 22.03.2012 - 8 U 3652/11 - DAR 2012, 335). Das gilt in gleichem Maße für Unfälle ohne Helm beim Reiten (OLG Celle, Urt. v. 12.02.2014 - 14 U 113/13 - DAR 2014, 199).
Am Rande der Hinweis, dass ein Mitverschulden bei den Elektro-Kleinstfahrzeugen nicht eingewandt werden kann. Da sie nicht schneller als 20 km/h fahren, besteht weder eine Helmpflicht nach § 21 Abs. 2 StVO noch ein derartiges Verkehrsbewusstsein bei deren Fahrern (vgl. z.B. Lang, jurisPR-VerkR 8/2024 Anm. 1; Jahnke, jurisPR-VerkR 20/2022 Anm. 3).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das sich nahtlos in die bisherige Rechtsprechung einfügende Urteil bringt nichts wesentlich Neues, erinnert aber an einige wichtige, in der Regulierungspraxis häufig auftretende Aspekte der Haftungsbeurteilung. So kommt es bei Unfällen zwischen einem Linksabbieger und einem Überholer angesichts der Vielfalt der Konstellationen in starkem Maße auf eine Einzelfallbetrachtung an, wobei grundsätzlich von beiden Beteiligten erhöhte Sorgfaltspflichten zu beachten sind. Der Überholer darf insbesondere nicht in einer unklaren Verkehrssituation überholen, der Abbieger muss sich frühzeitig einordnen, blinken und seine doppelte Rückschaupflicht beachten.
Eine Mithaftung des geschädigten Motorradfahrers wegen nicht getragener Schutzkleidung ist aktuell angesichts eines fehlenden allgemeinen Verkehrsbewusstseins in der Bevölkerung nach überwiegender Rechtsprechung nicht gegeben. Angesichts des positiven Trends ist insoweit jedoch eine enge Beobachtung der Entwicklung in den nächsten Jahren erforderlich.



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