Haftungsquote eines Linksabbiegers bei Kollision mit einem überholenden und zu schnell fahrenden MotorradLeitsätze 1. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs dar. Darin liegt zugleich ein wesentlicher Verfahrensmangel. 2. Die Entscheidung bei einem wesentlichen Verfahrensmangel zwischen Zurückverweisung und eigenen Sachentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass eine Zurückverweisung in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann. 3. Wenn sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht der Anschein dafür, dass der Linksabbieger die ihm obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Es genügt nicht, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel zu kontrollieren. 4. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn der Überholer nach den Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht rechnen darf, was insbesondere dann der Fall ist, wenn er nicht verlässlich beurteilen kann, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde. 5. Der Umfang eines etwaigen des Mitverschuldens des Verletzten an der Entstehung seiner unfallbedingten Verletzungen ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen. Orientierungssatz zur Anmerkung Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags führt regelmäßig zur Aufhebung und Zurückverweisung, wenn das Berufungsgericht eine ansonsten aufwändige Beweisaufnahme durchzuführen hätte. - A.
Problemstellung Das Linksabbiegen ist eine der klassischen, neuralgischen Konstellationen bei einem Verkehrsunfall. Bei dem Rechtsanwender, der im Verkehrsrecht tätig ist und dem der potenzielle Geschädigte schildert, dass er vor der Kollision links abgebogen sei, schrillen regelmäßig die Alarmglocken. Dies liegt daran, dass gegen den Linksabbieger regelmäßig ein Anscheinsbeweis dergestalt streitet, dass davon ausgegangen wird, dass er die geltenden Sorgfaltsanforderungen beim Abbiegevorgang nicht beachtet hat. Noch komplexer wird die Situation, wenn zum Linksabbiegevorgang ein Überholen eines nachfolgenden Kraftfahrzeugs hinzutritt. Das OLG Schleswig hatte sich mit einer solchen Fallkonstellation zu beschäftigen, wobei Schwerpunkt der Entscheidung verfahrensrechtliche Fragen sind.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Parteien streiten um materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall auf einer Bundesstraße. Der Pkw-Fahrer beabsichtigte, nach links in eine Straße einzubiegen, der Kläger fuhr mit einem Motorrad hinter dem Beklagtenfahrzeug und setzte zum Überholen an. Hierdurch kam es zum Unfall, dessen Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sind, insbesondere ob und wann der Pkw-Fahrer den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte. Durch den Unfall wurde der Kläger (zum Unfallzeitpunkt 44 Jahre alt) verletzt und musste stationär sowie ambulant behandelt werden. Er erlitt eine Sprengung des Schultergelenks links (Typ Rockwood 5, also mit Riss sowohl des Bandapparats als auch der Muskulatur), Schürfwunden und im Behandlungsverlauf eine Wundheilungsstörung. Die Bewegungsfähigkeit der Schulter ist dauerhaft beeinträchtigt, der Kläger kann den linken Arm nicht mehr über die Horizontalebene heben. Der Kläger hat die Zahlung von Verdienstausfallschaden und Schmerzensgeld verlangt, er ist Linkshänder und hat vor dem Unfall als Maler bei einer dänischen Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Seit Dezember 2018 bezieht er Leistungen vom Jobcenter, welches die übergegangenen Schadensersatzansprüche zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung an den Kläger rückübertragen hatte. Die Beklagte zahlte auf das Schmerzensgeld an den Kläger insgesamt 6.000 Euro, auf den Verdienstausfallschaden 28.921,21 Euro. Das Landgericht sprach dem Kläger unter anderem eine Erwerbsschadenrente von monatlich 1.219,26 Euro bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zu und verurteilte die Beklagte zur Zahlung von weiteren 19.000 Euro Schmerzensgeld. Hiergegen erhob die Beklagte Berufung mit dem Ziel der vollständigen Klagabweisung. Sie bestritt grundsätzlich ihre Haftung, bemängelte die fehlende Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens und rügte die Schadensberechnung durch das Landgericht. Der Kläger hatte zunächst Anschlussberufung im Umfang von 1 Euro eingelegt, diese nahm er im Verhandlungstermin vor dem Oberlandesgericht zurück, nachdem hierfür keine Prozesskostenhilfe bewilligt wurde. Die Berufung der Beklagten hatte i.S.d. Aufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht Erfolg. Nach Ansicht des OLG Schleswig litt das Verfahren im ersten Rechtszug an einem wesentlichen Mangel, der eine aufwändige Beweisaufnahme notwendig mache (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Das Landgericht habe den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es erheblichen und unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten übergangen habe. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stelle einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG dar. Da es sich bei dem Gebot der Ausschöpfung der angebotenen Beweise um das Kernstück des Zivilprozesses handle, liege ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S.v. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vor (vgl. BGH, Urt. v. 20.07.2011 - IV ZR 291/10 Rn. 21; OLG Schleswig, Urt. v. 13.06.2019 - 7 U 140/18; OLG München, Urt. v. 20.02.2015 - 10 U 1722/14 Rn. 33). Die Beklagte habe bereits mit der Klagerwiderung vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass der Kläger mit seinem Motorrad mit überhöhter Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h (bei erlaubten 50 km/h) in die linke Seite des Beklagtenfahrzeugs hineingefahren sei, als dieses sich bereits auf der Gegenfahrspur im Abbiegevorgang befunden habe. Der Kläger habe eine überhöhte Geschwindigkeit von ca. 55 bis maximal 60 km/h auch zugestanden, und nur eine Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h ausdrücklich bestritten. Das Landgericht habe eine Begutachtung zum Unfallgeschehen zwar in Aussicht gestellt, sei dem Beweisangebot dann letztlich aber nicht nachgegangen. Darin liege ein wesentlicher Verfahrensfehler und damit zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Mangelhafte Beweiserhebungen insbesondere i.V.m. der Nichtgewährung rechtlichen Gehörs stellten den wichtigsten Anwendungsfall eines wesentlichen Verfahrensfehlers i.S.v. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO dar. Die Sache sei deshalb an das Landgericht zurückzuverweisen. Zwar habe das Landgericht im Urteil ausdrücklich die Einholung eines Gutachtens zur Unfallrekonstruktion mit der Begründung abgelehnt, die festgesetzte Quote von 80% zu 20% zulasten der Beklagten sei auch gerechtfertigt, wenn unterstellt werde, der Kläger sei 70 km/h gefahren. Ein Beweisantrag könne zwar abgelehnt werden, wenn die vorgebrachte Tatsache als wahr unterstellt werde (vgl. BGH, Urt. v. 17.02.1970 - III ZR 139/67). Das Landgericht habe dann aber die Geschwindigkeitsüberschreitung von 70 km/h – und damit einen gravierenden Verstoß gegen § 3 StVO – auch tatsächlich in die Abwägung nach § 17 StVG einstellen müssen. Das sei ersichtlich nicht erfolgt, da das Landgericht zulasten des Klägers nur die einfache Betriebsgefahr mit 20% berücksichtigt habe. Zur Quotenbildung nach Ermittlung der Verursachungsanteile weise der Senat auf Folgendes hin: Da ein unabwendbares Ereignis i.S.d. §§ 17 Abs. 3, 18 Abs. 3 StVO hier nicht vorliege, sei im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden sei. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge seien unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter habe dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichten und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1, 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten wolle. Hier streite zulasten der Beklagten zwar bereits der Anscheinsbeweis der Unfallverursachung durch ein Fehlverhalten beim Linksabbiegen. Insoweit könne dahinstehen, ob der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs, der unerreichbar nach Rumänien verzogen sei, geblinkt habe, und wann dies geschehen sei. Der einzige unbeteiligte Zeuge habe zur Frage des Fahrverhaltens des Pkw vor dem Unfall nichts Wesentliches beitragen können, insbesondere nicht zur Frage, ob der Fahrtrichtungsanzeiger betätigt worden sei. Hierauf komme es aber letztlich auch nicht entscheidend an, da der Pkw-Fahrer jedenfalls gegen die doppelte Rückschaupflicht aus § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen habe. Soweit sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereigne, spreche nach aller Lebenserfahrung im Sinne eines Anscheinsbeweises vieles dafür, dass der Linksabbieger die ihm nach § 9 Abs. 1 StVO obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet habe. Der Pkw-Fahrer habe in einem Parallelverfahren ausdrücklich bestätigt, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel kontrolliert zu haben. Dies sei nicht ausreichend, denn es bedürfe vor dem Linksabbiegen auch des Blicks über die Schulter (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 08.07.2022 - 7 U 106/20). Zudem spreche der Unfallhergang dagegen, dass der Pkw-Fahrer den rückwärtigen Verkehr vor dem Abbiegen gemäß dem durch § 9 Abs. 1 StVO vorgegebenen Maßstab beachtet habe. Zulasten des Klägers streite jedoch der von ihm zugestandene Verstoß gegen § 3 StVO. Schon dieser Umstand führe dazu, dass die zu seinen Lasten festzusetzende Quote nicht in Höhe der einfachen Betriebsgefahr von 20% festgesetzt werden könne, sondern mindestens 30% betragen müsse. Zudem könne, je nach dem Ergebnis des noch einzuholenden unfallanalytischen Gutachtens, eine noch höhere Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrads, ein mangelnder Sicherheitsabstand nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO sowie ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO bewiesen werden. Das Überholen bei unklarer Verkehrslage sei unzulässig. Eine unklare Verkehrslage sei gegeben, wenn der Überholer nach allen Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht rechnen dürfe, was insbesondere dann der Fall sei, wenn er nicht verlässlich beurteilen könne, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde (vgl. KG, Beschl. v. 21.01.2010 - 12 U 50/09). Hier spreche vieles dafür, dass ein solcher Fall gegeben sei. Der Kläger habe sich im Ermittlungsverfahren nach Angaben der Polizei dahin gehend eingelassen, dass der PKW des Unfallgegners „komisch“ gefahren sei, mal etwas schneller, mal etwas langsamer. Hierin liege der klassische Fall einer Verkehrslage, bei der ein Verkehrsteilnehmer nicht wisse, was der vorausfahrende Fahrer sogleich tun werde, also der Fall einer „unklaren Verkehrslage“. Zu klären sei auch die Frage des ausreichenden Sicherheitsabstandes nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO, der Kläger habe im Rahmen seiner Anhörung erklärt, dieser habe vor dem Überholen lediglich „ca. 2 Autolängen“ betragen. Ein höherer Haftungsanteil als 30% sei daher möglich, wenn der Beklagten tatsächlich der Beweis ihrer Behauptungen gelinge, dass die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit des Klägers noch deutlich über den zugestandenen Verstoß hinausging, der erforderliche Sicherheitsabstand vor dem Unfall nicht eingehalten worden sei und zudem eine unklare Verkehrslage vorlag. Zur Klärung dieser Fragen bedürfe es zum Haftungsgrund der Einholung eines technischen Unfallrekonstruktionsgutachtens. Zur Höhe des Schmerzensgeldes weise der Senat auf Folgendes hin: Die Höhe eines dem Geschädigten zustehenden Schmerzensgeldes sei aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (vgl. BGH, Urt. v. 10.07.2018 - VI ZR 259/15). Das Schmerzensgeld habe hiernach einerseits die Ausgleichsfunktion, dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich zu bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art seien, andererseits die Genugtuungsfunktion, die dem Gedanken Rechnung tragen solle, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan habe, Genugtuung schulde (BGH, Beschl. v. 11.05.2017 - 2 StR 337/14). Bei Verkehrsunfällen komme der Ausgleichsfunktion die maßgebliche Bedeutung zu und die Genugtuungsfunktion trete normalerweise in den Hintergrund (OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.03.2019 - 1 U 66/18). Der Senat könne zur Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes noch nicht abschließend Stellung nehmen, da der Umfang des noch nicht festgestellten Mitverschuldens des Verletzten an der Entstehung der erlittenen Verletzungen als wichtiger Bemessungsfaktor zu beachten sei (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 07.07.2021 - 1 U 31/20). Ohne Berücksichtigung eines Mitverschuldens sehe der Senat im vorliegenden Fall aufgrund des eingetretenen Dauerschadens, der Auswirkungen auf die weitere Berufstätigkeit des Klägers in seinem erlernten Beruf und den Komplikationen beim Behandlungsverlauf ein Schmerzensgeld i.H.v. insgesamt 35.000 Euro als angemessen an. Hierauf habe die Beklagte vorgerichtlich 6.000 Euro gezahlt. Aufgrund des aufgezeigten Verfahrensmangels sei eine umfangreiche ergänzende Beweisaufnahme notwendig. Neben der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens werde auch ein arbeitsmedizinisches Gutachten wegen der Höhe des anzurechnenden Verdienstes infolge einer Verletzung der Schadensminderungspflicht durch den Kläger (§ 254 Abs. 2 BGB) einzuholen sein. Denn die Beklagte habe mit der Berufung eingewendet, der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, über den Einsatz seiner Arbeitskraft mehr als die vom Landgericht angenommenen 1.000 Euro monatlich erzielen zu können. Dies wäre, wenn die Beklagte diese Behauptung aufrechterhalten wolle, durch Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens zu überprüfen. Für die Annahme der Verletzung einer Erwerbsobliegenheit sei zu untersuchen, ob der Kläger trotz seiner hinzutretenden Vorerkrankung (u.a. Bandscheiben-OP im Jahr 2010 mit über einjähriger Arbeitsunfähigkeit) am Arbeitsmarkt überhaupt einen über 1.000 Euro hinausgehenden Verdienst erzielen könne und falls ja, in welcher Höhe. Die Entscheidung zwischen der Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 ZPO und einer eigenen Sachentscheidung nach § 538 Abs. 1 ZPO stehe im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung sei insbesondere auch zu erwägen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führe und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen könne (vgl. BGH, Urt. v. 10.03.2005 - VII ZR 220/03). Eine eigene Entscheidung scheine dem Senat hier nicht sachdienlich, bedürfe es doch bis zur Entscheidungsreife voraussichtlich der Wiederholung und Ergänzung einer aufwändigen Beweisaufnahme. Die Beklagte habe ein schützenswertes Interesse daran, dass das Verfahren nicht mit Verfahrensmängeln belastet werde.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung des OLG Schleswig fügt sich in die bereits bestehende Rechtsprechung ein. Es ist anerkannt, dass das Unterlassen der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens regelmäßig einen erheblichen Verfahrensmangel darstellt, welcher zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Erstgericht führt (vgl. Neumair, jurisPR-VerkR 19/2020 Anm. 1 m.w.N.). Die Beklagte hatte schon in der Klageerwiderung einen Antrag auf Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens gestellt und vorgetragen, der Kläger sei mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Ein „prozessordnungsgemäßer“ und damit erheblicher Beweisantrag liegt aber nach ständiger Rechtsprechung nur dann nicht vor, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zum Beweisthema sachdienliche Ergebnisse erbringen kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.02.1992 - 2 BvR 1179/91). Sind für die Beurteilung der Ungeeignetheit eines Beweismittels fachliche Kenntnisse notwendig, so muss das Gericht, wenn es sich diese Sachkunde selbst zutraut, darlegen, woher es diese Fachkenntnisse bezieht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.10.2002 - 1 BvR 2116/01). Nicht nachzukommen ist einem Beweisantritt auch dann, wenn er nicht dem Beweis vorgetragener Tatsachen dient, sondern die bloße Ausforschung von Tatsachen oder die Erschließung von Erkenntnisquellen, die es erst ermöglichen sollen, bestimmte Tatsachen zu behaupten, zum Inhalt hat. Entscheidend für die Unterscheidung eines solchen Beweisermittlungsantrags von einem beachtlichen Beweisantrag ist dann, ob die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (vgl. KG, Urt. v. 14.02.2011 - 12 U 67/10 mit Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 30.07.1996 - 1 BvR 634/94 und BGH, Urt. v. 25.04.1995 - VI ZR 178/94). Das Landgericht wiederum hätte nicht ablehnen dürfen und hierin liegt zugleich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht hatte zur Begründung der Ablehnung des Beweisantrags die Erwägung angestellt, dass der von der Beklagten erhobene Einwand des Geschwindigkeitsverstoßes des Klägers als wahr unterstellt werden könne, aber sich auch dann keine abweichende Verteilung der Verursachungsbeiträge ergebe. Die Wahrunterstellung einer Tatsache verlangt vom Gericht vor allem Konsequenz. Infolge der Wahrunterstellung wird eine Behauptung insgesamt als wahr, also so behandelt, als ob der Beweisführer den ihm obliegenden Beweis erbracht hätte. Mehr kann eine Partei im Zivilprozess für die Behandlung ihrer tatsächlichen Behauptungen weder verlangen noch erreichen. Das Gericht darf sich mit der Wahrunterstellung aber nirgends in Widerspruch setzen (vgl. BGH, Urt. v. 17.02.1970 - III ZR 139/67 Rn. 90). Dieser Rechtsfehler ist dem Landgericht aber unterlaufen, weil es einen schweren Verkehrsverstoß des Klägers als wahr unterstellt hat, dann aber bei der Bildung der Haftungsquote diesen Aspekt außer Acht gelassen hat. Nicht zu beanstanden ist, dass die angenommene einfache Betriebsgefahr eines Motorrads 20% beträgt. Die allgemeine Betriebsgefahr wird dabei nicht nur durch eine fehlerhafte oder verkehrswidrige Fahrweise erhöht, ein etwaiges Verschulden des Geschädigten und dessen Schwere bildet nur einen Faktor der Abwägung. Eine Erhöhung der Betriebsgefahr kann sich auch aus einem zulässigen Fahrverhalten ergeben, wenn nur besondere, die allgemeine Gefahr des Fahrens übersteigende Gefahrenmomente vorhanden sind. Auch ein gefahrenträchtiger Verkehrsvorgang oder sogar eine den konkreten Verkehrsvorgang beeinflussende schwierige Örtlichkeit kann die Betriebsgefahr erhöhen (vgl. BGH, Urt. v. 11.01.2005 - VI ZR 352/03 Rn. 35). Maßgebend können zudem Fahrzeuggröße, Fahrzeugart, Gewicht, Fahrzeugbeschaffenheit sowie typische Eigenschaften im Verkehr, Beleuchtung, oder Fahrgeschwindigkeit sein (vgl. OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 - 14 U 157/22 Rn. 62). Insoweit hätte das Landgericht den schweren Verkehrsverstoß berücksichtigen müssen, weshalb die Erwägung der Wahrunterstellung die Unterlassung der Einholung des Gutachtens nicht rechtfertigen konnte. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist im Rahmen des § 17 StVG eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.02.2012 - VI ZR 10/11 Rn. 6). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen, jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage müssen außer Betracht bleiben (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. v. 21.11.2006 - VI ZR 115/05). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben, der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 15.11.2023 - 7 U 106/23 Rn. 35). Da dem Landgericht hier insoweit gleich mehrere erhebliche Verfahrensverstöße unterlaufen sind, ist die Entscheidung des OLG Schleswig, das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zurückzuverweisen, zutreffend.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die Entscheidung zeigt einmal mehr, wie schwierig Haftungsabwägungen bei wechselseitigen Verkehrsverstößen sind und dass nicht nur das Gericht, sondern auch der das Verfahren begleitende Rechtsanwalt darauf sehr genau darauf achten muss, dass ordnungsgemäße Beweisantritte erfolgen und diesen dann auch nachgegangen wird. Die Aufhebung und Zurückverweisung ist für beide Parteien eines Rechtsstreits regelmäßig ein Fiasko, weil nicht nur eine Erhöhung von finanziellen Belastungen eintreten kann, sondern vor allem auch viel Zeit verloren wird.
- E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung Das OLG Schleswig führt hinsichtlich der Kosten des Verfahrens aus, dass die Kostenentscheidung dem Erstgericht vorzubehalten sei, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden könne (vgl. OLG München, Urt. v. 20.02.2015 - 10 U 1722/14 Rn. 41). Die Gerichtskosten, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, sowie die Gerichtskosten für das Berufungsverfahren seien gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG niederzuschlagen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel, welcher allein gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führe, denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung i.S.d. § 21 GKG darstelle (vgl. OLG München, a.a.O., Rn. 42). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folge aus den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung sei im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (vgl. BGH, Urt. v. 24.11.1976 - IV ZR 3/75).
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