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Anmerkung zu:OLG Braunschweig 11. Zivilsenat, Beschluss vom 11.09.2023 - 11 U 316/21
Autor:Kai-Jochen Neuhaus, RA, FA für Versicherungsrecht und FA für Miet- und Wohnungseigentumsrecht
Erscheinungsdatum:17.01.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 162 BGB, § 826 BGB, § 123 BGB, § 22 VVG, § 21 VVG, § 19 VVG, § 242 BGB, § 263 StGB, § 26 StGB, § 124 BGB, § 199 BGB, § 124 VVG
Fundstelle:jurisPR-VersR 1/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Schimikowski, RA
Zitiervorschlag:Neuhaus, jurisPR-VersR 1/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Vereitelung der Anfechtungsmöglichkeit wegen arglistiger Täuschung durch den Versicherungsnehmer einer Berufsunfähigkeitsversicherung



Leitsatz

Vereitelt der Versicherungsnehmer einer Berufsunfähigkeitsversicherung gezielt das Recht der Versicherung auf Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung, indem er den bereits zuvor eingetretenen Versicherungsfall erst nach Ablauf der Frist aus § 124 Abs. 3 BGB meldet, kann der Versicherung ein sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB ergebendes Leistungsverweigerungsrecht zustehen.



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Mehrfache ärztliche Konsultationen wegen Versagensängsten stehen in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Berufsausübung und sind damit in besonderem Maße geeignet, das versicherte Risiko zu erhöhen, so dass eine offenkundige Gefahrerheblichkeit für eine Berufsunfähigkeitsversicherung besteht.
2. Arglist ist indiziell belegt, wenn der Antragsteller auf die Fragen nach „Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Psyche oder des Gemüts“ (mit u.a. den Beispielen Angst- und Erschöpfungszustände, Depression) sowie Beratungen, Untersuchungen und Behandlungen durch Psychologen, Psychotherapeuten oder Fachärzte in den letzten fünf Jahren nicht angibt, dass er bei schon länger bestehenden psychischen Beschwerden wenige Tage vor der Antragstellung wegen akuter und von ihm auch als schwerwiegend empfundener psychischer Probleme die psychiatrische Ambulanz einer Fachklinik aufsuchte und diese bescheinigte, dass dies „in deutlicher depressiver Verfassung“ erfolgte.
3. Der zur Angabe von Beschwerden aufgeforderte Versicherungsnehmer darf seine Antwort weder auf Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht beschränken noch sonst eine wertende Auswahl treffen und vermeintlich weniger gewichtige Gesundheitsbeeinträchtigungen verschweigen. Die Pflicht zur Offenbarung der Gesundheitsbeeinträchtigungen besteht nur dann nicht, wenn diese offenkundig belanglos sind oder alsbald vergehen.
4. Die Argumentation, Versagensängste, die Anlass ärztlicher Konsultationen waren, seien nicht von langer Dauer und deshalb nicht anzeigepflichtig gewesen, ist unbeachtlich, weil die Ängste ersichtlich so erheblich waren, dass der Versicherungsnehmer meinte, insoweit ärztlicher Hilfe zu bedürfen und wenn im Antragsformular sogar ausdrücklich nach Angst- und Erschöpfungszuständen in den letzten fünf Jahren gefragt wurde.
5. Eine bei der Antragstellung auf Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung erteilte Schweigepflichtsentbindung für Ärzte löst ohne ernsthafte Anhaltspunkte für unvollständige oder unrichtige Angaben im Antrag keine Nachfrageobliegenheit des Versicherers aus.
6. Für die Kausalität zwischen der Täuschung und der Abgabe der Willenserklärung des Versicherers ist es nicht erforderlich, dass die Willenserklärung ohne die Täuschung überhaupt nicht abgegeben worden wäre; ausreichend ist vielmehr, dass sie jedenfalls nicht mit dem Inhalt oder zu der Zeit, insbesondere ohne weitere Prüfungen, abgegeben worden wäre.
7. Für den Ablauf der Ausschlussfrist des § 124 Abs. 3 BGB (zehn Jahre) kommt es nicht darauf an, dass der Versicherer bei Fristablauf noch keine Kenntnis vom Vorliegen eines Anfechtungsgrundes hat.
8. Hat der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall absichtlich erst nach Ablauf der Ausschlussfrist des § 124 Abs. 3 BGB gemeldet, um dem Versicherer das ihm zustehende Anfechtungsrecht zu nehmen, handelt er treuwidrig, und der Versicherer kann dem etwaigen Leistungsanspruch den zur Leistungsfreiheit führenden Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegenhalten.
9. Indizien für eine absichtlich verspätete Meldung sind: Anzeige der Berufsunfähigkeit exakt zehn Jahre und drei Tage nach Beginn des Versicherungsvertrages und erst ca. elf Monate nach dem behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit; Anzeige des Versicherungsfalles bei einem anderen Versicherer bereits ca. elf Monate zuvor; fehlende nachvollziehbare Begründung für eine verzögerte Meldung.
10. Die Behauptung, den Versicherungsvertrag schlicht vergessen zu haben, ist nicht plausibel, wenn jährlich Dynamikerhöhungen erfolgten und die Prämie monatlich vom Versicherungsnehmer gezahlt wurde.
11. Der Treuwidrigkeitseinwand ist dem Versicherer nicht dadurch abgeschnitten, dass die §§ 19 bis 22 VVG Ansprüche des Versicherers gegen den Versicherungsnehmer aus Pflichtverletzung bis Vertragsschluss abschließend regeln, denn der Einwand betrifft die spätere Vereitelung des Anfechtungsrechts des Versicherers.



A.
Problemstellung
§ 124 Abs. 3 BGB enthält eine Zehn-Jahres-Ausschlussfrist für Arglistanfechtungen. § 21 Abs. 3 Satz 2 VVG hat diese Ausschlussfrist für eine vorsätzliche oder arglistige Anzeigepflichtverletzung in das Versicherungsrecht übernommen. Der BGH betrachtet die Zehn-Jahres-Frist als eine absolute Höchstgrenze (BGH, Urt. v. 25.11.2015 - IV ZR 277/14 - VersR 2016, 101; Neuhaus, jurisPR-VersR 1/2016 Anm. 1) mit der praktisch seltenen, aber nicht ausgeschlossenen Situation, dass ein Versicherungsnehmer, der bei Antragstellung vorsätzlich oder arglistig getäuscht hat und dann die Anzeige des Versicherungsfalls bewusst über die Zehn-Jahres-Grenze verzögert, geschützt wird.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger, ein Polizeibeamter, beantragte am 14.08.2008 bei der Beklagten den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung und verneinte die im Antragsformular gestellten Gesundheitsfragen nach „Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Psyche oder des Gemüts in den letzten 5 Jahren“ (mit u.a. den Beispielen Angst- und Erschöpfungszustände, Depression) sowie Beratungen, Untersuchungen und Behandlungen durch Psychologen, Psychotherapeuten oder Fachärzte in den letzten fünf Jahren. Da der Antrag keine risikoerheblichen Angaben enthielt, wurde er von der Beklagten mit Versicherungsbeginn zum 01.09.2008 policiert. Nachfolgend war der Kläger immer wieder über längere Zeiträume u.a. auch aufgrund psychischer Erkrankungen krankgeschrieben und wurde schließlich zum 31.10.2017 in den Ruhestand versetzt. Am 03.09.2018 – also zehn Jahre und zwei Tage nach Versicherungsbeginn – meldete der Kläger Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung an und berief sich auf eine Berufsunfähigkeit ab Oktober 2017.
Im Leistungsprüfungsverfahren stellte sich heraus, dass der Kläger schon im Jahr 2005 über psychische Beschwerden geklagt, sich erneut 2007 wegen Depressionen und Überforderung ärztlich vorgestellt und mehrfach wegen akuter, von ihm auch als schwerwiegend empfundener psychischer Probleme in der psychiatrischen Institutsambulanz einer Fachklinik vorgestellt hatte, u.a. wenige Tage vor der Antragstellung auf Abschluss der Versicherung auch im August 2008 in laut Arztbericht „deutlicher depressiver Verfassung“ aufgrund von bereits länger anhaltenden psychischen Beeinträchtigungen. Durch die behandelnden Ärzte wurde insoweit ein stark ausgeprägter Leidensdruck und eine bestehende Krankheitseinsicht bescheinigt. Zudem existierte die gesicherte Diagnose eines Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms. Außerdem ergab sich, dass der Kläger im Rahmen einer weiteren Berufsunfähigkeitsversicherung bereits im Oktober 2017 einen Leistungsantrag gestellt hatte.
Die Beklagte lehnte die Leistung ab und berief sich darauf, dass der Kläger bereits vor Abschluss des Versicherungsvertrages dienst- und berufsunfähig gewesen sei, so dass die Berufsunfähigkeit nicht erst während der Versicherungsdauer eingetreten sei (mitgebrachte BU). Außerdem stehe ihr gemäß § 826 BGB ein Schadensersatzanspruch in Höhe des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zu, da dieser seine vorvertragliche Anzeigepflicht in ganz ungewöhnlich schwerem Maße verletzt habe und auch zielgerichtet vorgegangen sei, um den Ablauf der Frist von zehn Jahren für die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung zu umgehen. Er habe auf diese Weise vorsätzlich und sittenwidrig versucht, die Beklagte zu täuschen und ihr ihre gesetzlichen Rechte zu nehmen. Außerdem verstoße der Kläger gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn dieser versuche, ein Recht auszuüben, das er durch gesetz-, sitten- oder vertragswidriges Verhalten erworben habe. Ferner verletze der Kläger den hinter § 162 BGB stehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach eine Partei keinen Vorteil daraus ziehen könne, wenn sie entgegen Treu und Glauben ein bestimmtes Ereignis herbeiführe oder vereitele (hier: Anfechtungsmöglichkeit der Beklagten bei früherer Meldung des Versicherungsfalls). Letztendlich seien Ansprüche auch verjährt.
Das Landgericht folgte der Auffassung der Beklagten, dass sie etwaigen Leistungsansprüchen einen eigenen Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB im Wege des Arglisteinwandes nach § 242 BGB entgegenhalten kann. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung.
Ohne Erfolg! Nach Auffassung des OLG Braunschweig kann die Beklagte jedenfalls ein sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB ergebendes Leistungsverweigerungsrecht entgegenhalten, nachdem der Kläger das Recht der Beklagten auf Anfechtung des streitgegenständlichen Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung gezielt vereitelt hat. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei anerkannt, dass ein Recht missbräuchlich ausgeübt werden kann, wenn der Berechtigte es gerade durch ein gesetz-, sitten- oder vertragswidriges Verhalten erlangt hat und auf diese Weise Vorteile ziehen dürfte, die ihm bei redlichem Verhalten versagt wären (Verweis auf BGH-Rspr.). Das sei hier der Fall, weil der Kläger arglistig bei Vertragsschluss über seinen Gesundheitszustand täuschte, indem er bei der Antragsstellung im August 2008 wesentliche, von ihm ausdrücklich in Textform erfragte und gefahrerhebliche Umstände wahrheitswidrig verneinte. Dies berechtige die Beklagte zur Anfechtung des Versicherungsvertrages (§§ 19, 22 VVG i.V.m. § 123 BGB).
Der Kläger habe die Beklagte insoweit bei der Antragstellung getäuscht, indem er seine psychischen Beschwerden und Behandlungen nicht angab. Eine Depression sei in der Berufsunfähigkeitsversicherung ein offensichtlich gefahrerheblicher Umstand (OLG Köln, Urt. v. 05.06.2012 - I-20 U 1/12 Rn. 37; OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.04.1998 - 5 U 928/97 - 75 Rn. 28; vgl. auch: BGH, Urt. v. 09.12.1992 - IV ZR 232/91 - BGHZ 121, 6 Rn. 18). Unterstrichen werde dies dadurch, dass sich der Kläger nach eigenem Vortrag jedenfalls mehrfach wegen Versagensängsten ärztlich vorgestellt hat, was in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Berufsausübung stehe und damit in besonderem Maße geeignet sei, das versicherte Risiko zu erhöhen.
Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung zum Begriff der Arglist, die ausführlich dargestellt werden, habe der Kläger hier arglistig gehandelt, weil er sich im anzeigepflichtigen Zeitraum mehrfach wegen akuter und von ihm auch als schwerwiegend empfundener psychischer Probleme im Fachklinikum vorgestellt und dies wenige Tage vor der Antragstellung „in deutlich depressiver Verfassung“ aufsuchte. Dies sei nur damit erklärbar, so der Senat, dass der Kläger seinen wahren Gesundheitszustand bewusst verschleiern wollte, und der Eindruck erweckt werden sollte, gesundheitlich sei „alles in Ordnung“, um eine positive Annahmeentscheidung nicht zu gefährden.
Plausible Erklärungen, die den Vorwurf der Arglist entkräften könnten, habe der Kläger nicht vorgebracht. Der Kläger durfte auch nicht meinen, nicht angabepflichtig zu sein, denn der zur Angabe von Beschwerden aufgeforderte Versicherungsnehmer darf seine Antwort weder auf Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht beschränken noch sonst eine wertende Auswahl treffen und vermeintlich weniger gewichtige Gesundheitsbeeinträchtigungen verschweigen. Die Pflicht zur Offenbarung der Gesundheitsbeeinträchtigungen besteht nur dann nicht, wenn diese offenkundig belanglos sind oder alsbald vergehen (Bezugnahme auf BGH-Rspr.). Soweit der Kläger angeführt habe, die Versagensängste seien nicht von langer Dauer gewesen, sei er mit einer solchen Bewertung bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Ängste ersichtlich so erheblich waren, dass der Kläger meinte, insoweit ärztlicher Hilfe zu bedürfen und im Antragsformular sogar ausdrücklich nach Angst- und Erschöpfungszuständen in den letzten fünf Jahren gefragt wurde. Zudem habe die bei der Antragstellung erteilte Schweigepflichtsentbindung für Ärzte mangels ernsthafter Anhaltspunkte für unvollständige oder unrichtige Angaben im Antrag auch keine Nachfrageobliegenheit der Beklagten ausgelöst (Verweis auf BGH-Rspr.). Die arglistige Täuschung sei schließlich auch kausal für die Abgabe der Willenserklärung der Beklagten, denn der Kläger habe keine Umstände vorgetragen, die den aufgrund der offenkundigen Gefahrerheblichkeit insoweit möglichen Anscheinsbeweis, dass die Beklagte nicht ohne weitere Prüfungen den Vertrag wie geschehen abgeschlossen hätte, erschüttern könnten.
Zum Zeitpunkt der Anzeige des vom Kläger behaupteten Versicherungsfalls sei der Beklagten trotz Vorliegens der sonstigen Voraussetzungen die Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung nicht mehr möglich gewesen, da die insoweit maßgebliche Ausschlussfrist des § 124 Abs. 3 BGB (vgl. dazu: BGH, Urt. v. 25.11.2015 - IV ZR 277/14 Rn. 16) abgelaufen gewesen sei. Dass die Beklagte bei Ablauf der Frist noch keine Kenntnis vom Vorliegen eines Anfechtungsgrundes hatte, ist für den Fristablauf ohne Bedeutung. Allerdings stehe dem etwaigen Leistungsanspruch des Klägers unter den besonderen Umständen des Streitfalles hier der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegen, da der Kläger unter Verstoß von Treu und Glauben den Versicherungsfall absichtlich spät gemeldet hat, um die Ausübung des Anfechtungsrechts durch die Beklagte zu vereiteln. Gerade ein Versicherungsverhältnis sei in besonderem Maße auf Vertrauen gegründet, so dass Treu und Glauben es stärker beherrschen als viele andere Vertragsverhältnisse (Verweis auf BGH-Rspr.). Treuwidriges Verhalten eines Vertragspartners könne dazu führen, dass ihm die Ausübung eines ihm zustehenden Rechts zu versagen ist, wenn er sich dieses Recht gerade durch das treuwidrige Verhalten verschafft hat. Der Kläger habe insoweit den behaupteten Versicherungsfall im Streitfall unter Verstoß gegen Treu und Glauben absichtlich verzögert gemeldet, um der Beklagten das ihr zustehende Anfechtungsrecht zu nehmen.
Dies ergebe sich aus folgenden Umständen: Meldung am 03.09.2018 exakt zehn Jahre und drei (Anm.: tatsächlich waren es zwei) Tage nach Beginn des Versicherungsvertrages und erst ca. elf Monate nach dem behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit im Oktober 2017; Anzeige des Versicherungsfalles bei einem anderen Versicherer bereits im Oktober 2017; fehlende nachvollziehbare Begründung für diese verzögerte Meldung. Die Behauptung, den Versicherungsvertrag schlicht vergessen zu haben, sei schon wegen der jährlichen Dynamikerhöhungen und der monatlichen Zahlung der Prämie nicht plausibel.
Der Einwand der Treuwidrigkeit sei der Beklagten nicht dadurch abgeschnitten, dass die §§ 19 bis 22 VVG Ansprüche des Versicherers gegen den Versicherungsnehmer aus Pflichtverletzung bis Vertragsschluss abschließend regeln, denn hier gehe es um die spätere Vereitelung der rechtzeitigen Geltendmachung der Rechte der Beklagten aus § 123 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 25.11.2015 - IV ZR 277/14 Rn. 21).


C.
Kontext der Entscheidung
Wie bereits angesprochen wurde, sieht der BGH die Zehn-Jahres-Frist als absolute Höchstgrenze und stützt dies auf den Wortlaut von § 21 Abs. 3 Satz 1 VVG in Verbindung mit der systematischen Reihenfolge des § 21 Abs. 3 VVG und die Regelung in § 22 VVG, dass das Anfechtungsrecht des Versicherers „unberührt“ bleibt. Daher, so der BGH, ist es analog § 21 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 VVG nicht relevant, ob der Versicherungsfall vor Ablauf der Frist eingetreten ist (BGH, Urt. v. 25.11.2015 - IV ZR 277/14 - VersR 2016, 101; Neuhaus, jurisPR-VersR 1/2016 Anm. 1). Nur kurz angesprochen hatte der BGH, dass dem „bewusst Verschleppenden“ möglicherweise der Treuwidrigkeitseinwand nach § 242 BGB entgegengehalten werden könnte. Im Urteil heißt es dazu knapp (Rn. 21):
„Anhaltspunkte dafür, dass – wie die Revisionserwiderung lediglich andeutet – der Versicherungsfall im Streitfall unter Verstoß gegen Treu und Glauben absichtlich spät gemeldet worden wäre, um der Beklagten die rechtzeitige Geltendmachung ihrer Rechte aus § 19 Abs. 2 bis 4 VVG oder § 123 BGB zu erschweren, sind nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht ersichtlich. Die Beklagte hat sich in den Vorinstanzen darauf auch nicht berufen.“
Im jurisPR-VersR 1/2016 Anm. 1 hatte ich dazu geschrieben: „Mangels Vortrag des Versicherers in den Vorinstanzen reißt der BGH das Thema der möglicherweise bewusst verzögerten Meldung der Berufsunfähigkeit mit dem denkbaren Ziel, die ‚10-Jahres-Hürde zu schaffen‘, um dem Versicherer die rechtzeitige Geltendmachung seiner Rechte aus § 19 Abs. 2 bis 4 VVG oder § 123 BGB zu erschweren oder unmöglich zu machen, nur kurz an. Ganz unrealistisch ist so etwas nicht: ich habe selbst auf Veranstaltungen ‚heiße Tipps‘ von Teilnehmern gehört, ein Versicherungsnehmer müsse doch ‚nur 10 Jahre durchhalten‘. Bereits die sparsamen Ausführungen des BGH verdeutlichen aber, dass bei einer absichtlichen Spätmeldung ein Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) in Betracht kommen kann, denn die Vertragspartner unterliegen einerseits wechselseitigen Rücksichtnahmepflichten auf die Interessen des jeweils anderen (wobei man diskutieren kann, ob das so weit geht, dass sich ein Versicherungsnehmer sozusagen selbst einem Anfechtungsrisiko aussetzen muss), und andererseits greift jedenfalls hier das ‚klassische‘ Argument der Rechtsprechung, dass der Arglistige nicht schützenswert ist. Voraussetzung einer gerichtlichen Überprüfung des Themas ist allerdings entsprechender Sachvortrag des Versicherers zu dem Treueverstoß, etwa indem vorgetragen wird, wann der Versicherungsnehmer erstmals Kenntnis von einer Berufsunfähigkeit hatte und dass nicht nachvollziehbar ist, warum er keine Ansprüche anmeldete. Im Rahmen einer sekundären Darlegungslast ist es dann Sache des Versicherungsnehmers, etwaige Hinderungsgründe vorzutragen.“
Das alles gilt nach wie vor und ist nun – soweit ersichtlich – erstmals durch die Entscheidung des OLG Braunschweig „verarbeitet“ worden. Der aufwendig begründeten Entscheidung ist vollumfänglich zuzustimmen. Sehr sorgfältig prüft der Senat zunächst die für eine Anfechtung durch den Versicherer erforderliche Anzeigepflichtverletzung einschließlich der Arglist des Versicherungsnehmers und geht dann auf das treuwidrige Verhalten im Zusammenhang mit der verspäteten Meldung des Versicherungsfalles ein. An dieser Stelle wird, dogmatisch völlig korrekt, zunächst aufgezeigt, warum der Ausschlussfrist des § 124 Abs. 3 BGB – bildlich gesprochen – der Grundsatz von Treu und Glauben aus § 242 BGB nicht nur „konkurrierend“ gegenübersteht, sondern sozusagen nach dem Willen des Gesetzgebers „übergeordnet darüber schwebt“. Der Grundsatz von Treu und Glauben enthält insoweit eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung (Rn. 64 und 97 m.w.N. aus der BGH-Rspr.), aus der letztlich auch der weitere Grundsatz resultiert, dass jemand, der arglistig handelt, nicht privilegiert werden soll. Diese Grundsätze sind auf sämtliche Rechtsgebiete und auch alle dortigen Detailbereiche anzuwenden.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Der hier besprochene Hinweisbeschluss vom 11.09.2023 wurde durch den finalen Zurückweisungsbeschluss des Senats vom 11.10.2023 bestätigt, der praktisch lediglich auf den vorherigen Beschluss verweist. Wer sich ausführlich mit der Entscheidung beschäftigen möchte, muss deshalb den Beschluss vom 11.09.2023 beiziehen. Nach Mitteilung der Pressestelle des OLG Braunschweig hat der BGH (Beschl. v. 23.10.2024 - IV ZR 229/23) die in diesem Verfahren eingereichte Beschwerde des Versicherungsnehmers gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen, so dass die Entscheidung damit rechtskräftig ist (https://oberlandesgericht-braunschweig.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/vereitelung-des-anfechtungsrechts-lasst-leistungsanspruch-entfallen-238143.html, abgerufen am 13.01.2025).
Die Entscheidung füllt die Lücke, die dadurch entstanden ist, dass sich der BGH in seiner Entscheidung vom 25.11.2015 (IV ZR 277/14) mangels Tatsachenvortrag nicht mit zum Verhalten böswilliger Versicherungsnehmer, die sich über die Zehn-Jahres-Grenze schleppen, auseinandersetzen musste. Natürlich sind solche Fälle in der Praxis selten, und noch seltener dürfte es dem Versicherer gelingen, die erforderlichen Fakten zusammenzutragen, um einerseits die arglistige Täuschung bei der Antragstellung und andererseits – als größte Hürde – das bewusste Hinüberschleppen über die Zehn-Jahres-Grenze nachzuweisen. Als Trostpflaster ist aber in Erinnerung zu rufen, dass es hier nicht um den Beweis im klassischen Sinne geht, sondern „nur“ um zusammenzutragende Indizien, die letztlich – wie auch im Fall des OLG Braunschweig – das Gericht überzeugen. Im Interesse der Versichertengemeinschaft ist es deshalb wichtig, dass Versicherer hier nicht von vornherein einknicken und signalisieren, dass solche Fälle wegen des erforderlichen Aufwands „abgehakt und ausgebucht“ werden, denn dies könnte die negative Intelligenz von Personen herausfordern, die bisher wegen Vorerkrankungen vor dem Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung zurückschreckten. Um solche böswilligen „Langstreckenläufer“ überhaupt identifizierbar zu machen, erscheint es deshalb wenig sinnvoll, in der Leistungsprüfung sozusagen standardisiert nach Ablauf von zehn Jahren nach Versicherungsbeginn keine Anzeigepflichtverletzungen mehr zu prüfen. Ein ganz wesentlicher Faktor dürfte hier letztlich sein, dass die Mitarbeitenden in der Leistungsprüfung die Problematik überhaupt kennen, denn hier geht es nicht um Basics, sondern um Feinheiten, die nur durch regelmäßige und gezielte Fortbildungen vermittelt werden können.
Für Versicherungsnehmer, die tatsächlich darauf setzen sollten, sich trotz kritischer Vorerkrankungen und bereits eingetretener objektiver Berufsunfähigkeit den Versicherungsschutz zu erschleichen und die zehn Jahre durchzuhalten, besteht ein besonderes Risiko: Sie balancieren damit auf dem schmalen Grat zur Strafbarkeit. Der hier in Betracht kommende Betrug i.S.d. § 263 StGB ist die Vermögensschädigung durch Täuschung eines anderen in Bereicherungsabsicht. Er setzt im äußeren Tatbestand eine Täuschungshandlung des Täters, einen Irrtum, eine Vermögensverfügung des Getäuschten und einen Vermögensschaden des Getäuschten oder eines anderen voraus. Subjektiv ist ein erstrebter (nicht notwendig erreichter) rechtswidriger Vermögensvorteil des Täters oder eines Dritten erforderlich. Zwischen den Merkmalen des äußeren Tatbestandes muss ein kausaler und funktionaler Zusammenhang und zwischen dem Schaden und dem Vorteil die sog. Stoffgleichheit bestehen. Geschütztes Rechtsgut ist dabei ausschließlich das Vermögen; nicht die Redlichkeit im Geschäftsverkehr. In den „Normalfällen“ der Anzeigepflichtverletzungen scheidet ein strafbarer Betrug aus, weil vereinfacht formuliert der Eintritt der Berufsunfähigkeit noch offen ist. Der Vertragsabschluss bewirkt hier keinen Vermögensschaden beim Versicherer, denn es ist – auch bei Arglist des Versicherungsnehmers – in der Regel ungewiss, ob und wann der Versicherungsfall eintritt. Eine arglistige Täuschung setzt insoweit kein betrügerisches Handeln voraus. Das Tatbestandsmerkmal der Arglist erfasst nicht nur ein Handeln, dass von betrügerischer Absicht getragen ist, sondern auch solche Verhaltensweisen, die auf bedingten Vorsatz im Sinne eines „Fürmöglichhaltens“ reduziert sind und mit denen kein moralisches Unwerturteil verbunden sein muss (BGH, Urt. v. 03.03.1995 - V ZR 43/94; BGH, Urt. v. 11.05.2001 - V ZR 14/00). Das alles ist aber anders, wenn dem Versicherungsnehmer bereits bewusst ist, dass er „an sich“ schon berufsunfähig ist und die Versicherung mit dem Ziel abschließt, den Versicherungsfall – wenn auch ggf. mit zeitlicher Verzögerung – anzumelden, um Leistungen zu erhalten. Man mag nun juristisch darüber diskutieren, ob für den Versicherer bereits ein Vermögensschaden eintritt, wenn er einen solchen Vertrag ohne Kenntnis der Tatsachen abschließt, was aber den Strafrechtlern vorbehalten bleiben muss. Jedenfalls spricht viel dafür, dass ein derart vorbelasteter Vertrag, bei dem nicht mehr „das Ob“, sondern nur noch „das Wann“ der Leistungsanmeldung fraglich ist, bereits einen Schaden darstellt. Selbst wenn man dies aber anders sieht, so ist auch bereits der Betrugsversuch nach § 263 Abs. 2 StGB strafbar, und dieser setzt keinen eingetretenen Vermögensschaden voraus.
Das alles betrifft nicht nur den Versicherungsnehmer: Wer als Dritter, etwa als Versicherungsvermittler, hier „heiße Tipps“ gibt, betritt gefährliches Terrain, denn möglicherweise kann in solchen Fällen auch eine strafbare Anstiftung zum Betrug in Betracht kommen § 26 StGB i.V.m. § 263 StGB).
Im Internet kursieren zahlreiche Kurzbesprechungen der Entscheidung des OLG Braunschweig, die die rechtliche Situation so darstellen, als gehe es bei den zehn Jahren um Verjährung. Das ist aber falsch, denn § 124 Abs. 3 BGB regelt nicht, wann Ansprüche verjähren, sondern enthält eine Zehn-Jahres-Ausschlussfrist für Arglistanfechtungen. Die Differenzierung ist aus folgenden Gründen im Einzelfall durchaus wichtig:
Die Verjährung bezieht sich auf das Verlustrecht eines Anspruchs durch den Ablauf einer bestimmten Frist und dient dem Rechtsschutz des Schuldners, indem sie nach einer bestimmten Zeitspanne verhindert, dass Ansprüche durchgesetzt werden können, auch wenn der Anspruch an sich weiterhin besteht. Eine Verjährung führt also (nur) zum Erlöschen des Anspruchs. Sie betrifft in der Regel das Recht, einen Anspruch vor Gericht durchzusetzen und greift erst dann, wenn der Schuldner tatsächlich die Einrede der Verjährung erhebt. Außerdem kann der Beginn der Verjährungsfrist an gewisse subjektive Voraussetzungen geknüpft sein (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Die Verjährung führt also zu einem verzögerten Erlöschen eines Anspruchs, wenn er nicht innerhalb einer bestimmten Zeit geltend gemacht wird, aber der Anspruch besteht weiterhin. Hingegen bewirkt eine Ausschlussfrist einen unwiderruflichen Verlust des Anspruchs, wenn er nicht innerhalb der festgelegten Frist geltend gemacht wird. Eine nachträgliche Geltendmachung ist ausgeschlossen. Die Ausschlussfrist führt zum Verlust eines Anspruchs nicht nur durch den Ablauf der Frist, sondern direkt und ohne weitere Möglichkeit der Geltendmachung, wenn die Frist nicht eingehalten wird. Sie hat den Charakter einer absoluten Frist, die nicht verlängert oder gehemmt werden kann. Gerade deshalb ist hier der übergeordnete Charakter von Treu und Glauben so entscheidend.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Die erste Hälfte des Hinweisbeschlusses vom 11.09.2023 beschäftigt sich mit der für solche Fälle erforderlichen Grundvoraussetzung, d.h. ob dem Versicherer überhaupt eine nunmehr durch § 124 Abs. 3 VVG ausgeschlossene Arglistanfechtung zustand. Hier werden mit sorgfältiger Begründung die entsprechenden Voraussetzungen „durchdekliniert“ (vgl. auch Orientierungssätze 1 bis 6), was die Entscheidung auch insoweit lesenswert und lehrreich macht.



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