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Anmerkung zu:EuGH 1. Kammer, Urteil vom 14.11.2024 - C-230/23
Autor:Prof. Dr. Malte Stieper, Universitätsprofessor
Erscheinungsdatum:28.02.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 53 UrhG, § 75 VGG, § 54h UrhG, § 10 VGG, § 54f UrhG, § 54g UrhG, § 41 VGG, § 242 BGB, § 259 BGB, 12008E288, EGRL 29/2001, EURL 26/2014
Fundstelle:jurisPR-WettbR 2/2025 Anm. 1
Herausgeber:Jörn Feddersen, RiBGH
Zitiervorschlag:Stieper, jurisPR-WettbR 2/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Unmittelbare Wirkung des unionsrechtlich vorgegebenen „gerechten Ausgleichs“ für Privatkopien



Leitsätze

1. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.05.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass einer Einrichtung, die von einem Mitgliedstaat mit der Erhebung und der Verteilung des gemäß dieser Bestimmung festgelegten gerechten Ausgleichs betraut ist, von einem Einzelnen vor einem nationalen Gericht entgegengehalten werden kann, dass die nationale Regelung, in der dieser Ausgleich vorgesehen ist, gegen Bestimmungen des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung verstößt, wenn eine solche Einrichtung zur Wahrnehmung dieser Aufgabe mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt.
2. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29 ist dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkung hat, auf die sich ein Einzelner, wenn diese Bestimmung nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt wurde, berufen kann, um zu erwirken, dass nationale Normen, die ihn zur Zahlung einer unter Verstoß gegen die genannte Bestimmung festgelegten Vergütung zum Zweck des gerechten Ausgleichs verpflichten, unangewendet bleiben.



A.
Problemstellung
Das Urteil des EuGH ergeht im Nachgang zu der Entscheidung „Hewlett-Packard/Reprobel“ vom 12.11.2015 (C-572/13 - GRUR 2016, 55). Darin hatte der EuGH das belgische System der Reprografie- und Privatkopievergütung teilweise für unvereinbar mit den Vorgaben des „gerechten Ausgleichs“ nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RL erklärt. Copaco, die Beklagte im jetzigen Verfahren, die Vervielfältigungsgeräte wie Kopiergeräte und Scanner vertreibt, hat daraufhin die Zahlung der von der zuständigen Verwertungsgesellschaft Reprobel verlangten Pauschalvergütung ausgesetzt und wurde von Reprobel deshalb gerichtlich in Anspruch genommen. Das angerufene Gericht (Unternehmensgericht Gent) hatte Zweifel, ob Copaco die Unionsrechtsrechtswidrigkeit der nationalen Vorschriften über die Pauschalvergütung dem von Reprobel geltend gemachten Vergütungsanspruch entgegenhalten kann, um sich gegen die Klage zu verteidigen. Es hat dem EuGH daher mehrere Fragen zu den Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RL zur Vorabentscheidung vorgelegt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Zur Beantwortung der Vorlagefragen knüpft der EuGH an seine ständige Rechtsprechung an, wonach sich Einzelne unmittelbar auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten und allen Trägern ihrer Verwaltung berufen können, sondern auch gegenüber privatrechtlichen Organisationen oder Einrichtungen, die sich im Hinblick auf ihre Aufgaben und Rechte von Privatpersonen unterscheiden und aufgrund ihrer strukturellen Einbindung in den Staat einer staatlichen Stelle gleichzustellen sind. Diese Voraussetzung sieht der EuGH als gegeben an, wenn die Einrichtung entweder einer öffentlichen Stelle bzw. deren Aufsicht untersteht oder von einer solchen Stelle mit der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut ist und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (dazu EuGH, Urt. v. 10.10.2017 - C-413/15 Rn. 33 ff. - RIW 2017, 818 „Farrell“).
Reprobel ist keine Einrichtung des öffentlichen Rechts und steht nach Auffassung des EuGH auch nicht unter der Aufsicht des belgischen Staates. Die Prüfung durch das Gericht konzentriert sich daher auf die Frage, ob sie eine Aufgabe im öffentlichen Interesse wahrnimmt und hierzu mit besonderen, über die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen hinausgehenden Rechten ausgestattet ist. Jedenfalls aus Sicht des deutschen Rechts überraschend kommt der EuGH dabei zu dem Ergebnis, dass Ersteres der Fall ist. Hierfür stellt er auf die Ergebnispflicht der Mitgliedstaaten ab, die Wirksamkeit des gerechten Ausgleichs zu gewährleisten, welcher der Sicherstellung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen den Interessen der Beteiligten diene; dies liege „durchaus im öffentlichen Interesse“ (Rn. 36). Auch eine Ausstattung mit „besonderen“ Rechten hält der EuGH für gegeben, da das belgische Recht Auskunftsansprüche der Verwertungsgesellschaft nicht nur gegenüber den Vergütungsschuldnern, sondern auch gegenüber anderen Wirtschaftsteilnehmern sowie gegenüber der Zollverwaltung, der Steuerverwaltung und den Sozialversicherungsträgern vorsieht und Verstöße gegen die Auskunftspflicht zudem strafrechtlich sanktioniert (Rn. 42-44).
Danach hängt die unmittelbare Wirkung von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RLL nur davon ab, dass die Richtlinienvorschrift „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau“ ist, um vor nationalen Gerichten deren unzureichende Umsetzung in nationales Recht zu rügen. Auch das bejaht der EuGH im Hinblick auf die detaillierten Vorgaben, die in zahlreichen Entscheidungen insbesondere zum gerechten Ausgleich für Privatkopien gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. b InfoSoc-RL entwickelt worden sind (Rn. 54-56; dazu Loewenheim/Stieper in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 54 Rn. 5 ff.). Der den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des gerechten Ausgleichs vom EuGH gewährte Gestaltungsspielraum stehe dem nicht entgegen (Rn. 50).


C.
Kontext der Entscheidung
Bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien geht es um eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für den Einzelnen begründen kann und ihm eine Berufung auf die Richtlinie als solche daher nicht möglich ist. Denn Richtlinien binden gemäß Art. 288 Unterabs. 3 AEUV anders als Verordnungen nur die Mitgliedstaaten; dehnte man die Möglichkeit, sich auf nicht umgesetzte Richtlinien zu berufen, auf den Bereich der Beziehungen zwischen Privatpersonen aus, würde daher die kompetenzielle Unterscheidung von Richtlinien und Verordnungen untergraben (EuGH, Urt. v. 10.10.2017 - C-413/15 Rn. 31 - RIW 2017, 818 „Farrell“; Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 101). Die Berufung auf eine Richtlinie ist folglich nur gegenüber solchen privatrechtlichen Organisationen möglich, die aufgrund ihrer strukturellen Einbindung in den Staat als Einrichtung des Staates angesehen werden können; das gilt unabhängig davon, ob sie gegenüber dem Einzelnen als Hoheitsträger auftreten.
Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob es im vorliegenden Verfahren überhaupt auf die unmittelbare Wirkung von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RL ankommt. Um die Begründung einer unmittelbar auf eine nicht umgesetzte Richtlinie gestützten Verpflichtung eines Einzelnen geht es nämlich gerade nicht: Umgekehrt will vielmehr Reprobel (als im öffentlichen Interesse tätige Einrichtung) Rechte aus einer nationalen Vorschrift herleiten, die nach Auffassung der Beklagten mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, weil sie über die für die Ausgestaltung des „gerechten Ausgleichs“ vom EuGH aufgestellten Anforderungen hinausgeht. Insoweit dürfte bereits aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts folgen, dass ein nationales Gericht eine mit den Vorgaben einer Richtlinie unvereinbare Vorschrift im Rahmen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung unangewendet lassen darf und ggf. sogar muss – insbesondere dann, wenn der Verstoß gegen das Unionsrecht bereits vom EuGH bestätigt worden ist (vgl. EuGH, Urt. v. 11.09.2018 - C-68/17 Rn. 62 ff. - NJW 2018, 3086 „IR/JQ“; kritisch Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 288 AEUV Rn. 84); auf eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie kommt es hierfür nicht an (zu dieser Unterscheidung auch BGH, Urt. v. 26.11.2008 - VIII ZR 200/05 Rn. 35 - NJW 2009, 427 „Quelle“).
Die Ausführungen des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RL sind dann im konkreten Fall nicht entscheidungserheblich. Wenn das vorlegende Gericht zu der Überzeugung kommt, dass die Vorschriften, auf die Reprobel den geltend gemachten Vergütungsanspruch stützt, mit den Vorgaben des „gerechten Ausgleichs“ nicht vereinbar sind, muss es die Klage vielmehr unabhängig davon abweisen. Sprengkraft kann das Urteil daher vor allem für den umgekehrten Fall entfalten, dass (vermeintliche) Vergütungsschuldner zu Unrecht entrichtete Vergütungen von einer Verwertungsgesellschaft zurückfordern wollen, obwohl das nationale Recht entgegen den Vorgaben des EuGH zur Ausgestaltung des gerechten Ausgleichs keinen entsprechenden Rückerstattungsanspruch vorsieht (dazu Loewenheim/Stieper in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 54 Rn. 9, 38 m.w.N.). Auch Urheber und Leistungsschutzberechtigte werden sich im Hinblick auf die Ausschüttung der von einer Verwertungsgesellschaft erzielten Einnahmen auf die unmittelbare Wirkung von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RL berufen können, etwa wenn Vorschriften des nationalen Rechts eine unionsrechtswidrige Verteilung der Einnahmen durch eine Verwertungsgesellschaft vorsehen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Inwieweit eine unmittelbare Wirkung des in Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b InfoSoc-RL vorgesehenen gerechten Ausgleichs für Privatkopien und Reprografien (§ 53 Abs. 1 und 2 UrhG) auch gegenüber den Verwertungsgesellschaften in Deutschland geltend gemacht werden kann, hängt davon ab, ob diese nach den Kriterien des EuGH ebenfalls als Trägerinnen einer öffentlichen Aufgabe angesehen werden können. Allein aus der in den §§ 75 ff. VGG vorgesehenen Aufsicht durch das DPMA folgt eine solche Gleichstellung mit staatlichen Stellen noch nicht. Denn entsprechend der unionsrechtlichen Vorgabe in Art. 36 Abs. 1 RL 2014/26/EU unterliegt auch Reprobel der staatlichen Aufsicht durch das belgische Wirtschaftsministerium; das genügt dem EuGH jedoch offenbar nicht für die Annahme einer strukturellen Einbindung in den belgischen Staat (so bereits GA Szpunar, Schlussanträge i.S. C-230/23 Rn. 38 „Reprobel/Copaco“).
Ob man den „öffentlichen“ Charakter der Aufgabe allein damit begründen kann, dass die Verwertungsgesellschaft im Hinblick auf die Verwertungsgesellschaftenpflichtigkeit der Vergütungsansprüche gemäß § 54h Abs. 1 UrhG kraft Gesetzes mit der Wahrnehmung der Ansprüche betraut ist (so Bibi, GRUR 2025, 81, 82), ist ebenfalls zweifelhaft. Der Umstand, dass eine Verwertungsgesellschaft Vergütungsansprüche wahrnimmt, die für einzelne Rechtsinhaber nur schwer durchsetzbar wären, ändert als solches nichts daran, dass Verwertungsgesellschaften treuhänderisch für Urheber und Inhaber von Leistungsschutzrechten als private Berechtigte tätig werden. Das vom EuGH angenommene „öffentliche“ Interesse an einem gerechten Ausgleich scheint vielmehr durch die Besonderheiten des belgischen Rechts bedingt zu sein: Das Gericht rekurriert bei seiner Begründung insoweit ersichtlich auf die Schlussanträge von Generalanwalt Szpunar. Neben dem Allgemeininteresse an einer Beschränkung des Vervielfältigungsrechts zugunsten privater Vervielfältigungen misst dieser erhebliches Gewicht dem Umstand bei, dass Reprobel nicht in ihrer Eigenschaft als Verwertungsgesellschaft zu Zwecken der Verwaltung ausschließlicher Rechte handle und von den Inhabern der Urheber- und Leistungsschutzrechte auch nicht eigenständig beauftragt sei, sondern eine öffentlich-rechtliche Gebühr in Form einer „mittelbaren Steuer eigener Art“ erhebe (GA Szpunar, Schlussanträge i.S. C-230/23 Rn. 41-44 „Reprobel/Copaco“). Insoweit unterscheidet sich die Regelung in Belgien vom deutschen Recht, das einen materiell-rechtlichen Vergütungsanspruch gewährt, welcher der Verwertungsgesellschaft durch einen Wahrnehmungsvertrag zur Wahrnehmung übertragen werden muss (§ 10 VGG).
Jedenfalls haben Verwertungsgesellschaften nach deutschem Recht keine mit der Rechtslage in Belgien vergleichbaren „besonderen“ Rechte bei der Durchsetzung der ihnen zur Wahrnehmung eingeräumten Urheber- und Leistungsschutzrechte. Die Auskunftsansprüche in den §§ 54f, 54g UrhG und § 41 VGG entsprechen im Wesentlichen denjenigen, die Rechteinhaber auch nach allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften (§§ 242, 259 BGB) geltend machen können (so auch Bibi, GRUR 2025, 81, 82 f.). Auf das deutsche Recht dürfte sich die Entscheidung des EuGH daher nicht ohne Weiteres übertragen lassen.



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