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Anmerkung zu:EuGH 5. Kammer, Urteil vom 30.10.2025 - C-402/24
Autor:Dr. Friedrich L. Cranshaw, RA
Erscheinungsdatum:26.11.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 108 InsO, § 611a BGB, § 279 InsO, § 128 InsO, § 111 BetrVG, § 125 InsO, § 80 InsO, § 38 SGB 3, § 22 InsO, § 2 SGB 3, § 45 ArbGG, § 120 InsO, § 1 KSchG, § 615 BGB, § 11 KSchG, § 18 KSchG, § 55 InsO, § 61 InsO, § 17 KSchG, § 113 InsO, § 46 ArbGG, § 134 BGB, § 4 KSchG, EURL 2015/1794, 12016P047, 12008E267, EGRL 59/98
Fundstelle:jurisPR-InsR 10/2025 Anm. 1
Herausgeber:Ministerialrat Alexander Bornemann
Dr. Daniel Wozniak, RA, FA für Insolvenz- und Sanierungsrecht, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht und FA für Steuerrecht
Zitiervorschlag:Cranshaw, jurisPR-InsR 10/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Fehlerhafte oder unvollständige Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Behörde („Sewel“)



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Art. 3 der Richtlinie 98/59/EG („Massenentlassungsrichtlinie“) ist dahin auszulegen, dass der Zweck der Anzeige einer beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde nicht als erreicht angesehen werden kann, wenn zum einen diese Behörde eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige nicht beanstandet und sich somit als ausreichend informiert betrachtet, um innerhalb der in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Frist nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen, und wenn zum anderen nach der nationalen Regelung ein Zusammenwirken des Arbeitgebers und der zuständigen Behörde vorgesehen ist, um den Eintritt von Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu begrenzen, und/oder die nationale Arbeitsagentur im Massenentlassungsverfahren zur Amtsermittlung verpflichtet ist.
2. Art. 6 der Richtlinie 98/59/EG ist dahin auszulegen, dass im Fall einer fehlerhaften oder unvollständigen Anzeige einer beabsichtigten Massenentlassung der Umstand, dass die in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Frist von 30 Tagen nicht läuft, keine Maßnahme darstellt, die dazu dient, die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie vorgesehene Anzeigepflicht i.S.v. Art. 6 der Richtlinie durchzusetzen (übernommen mit Kürzungen aus dem Tenor des Besprechungsurteils).
3. Aus dem Tenor des mit dem Urteil „Sewel“ zusammenhängenden Urteils „Tomann“ des EuGH vom 30.10.2025 (C-134/24) folgt, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 98/59/EG „dahin auszulegen ist, dass die Kündigung eines Arbeitsvertrages im Rahmen einer beabsichtigten Massenentlassung“ erst wirksam werden kann, wenn die dortige Frist von 30 Tagen nach der gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 vorzunehmende Anzeige der Massenentlassung an die zuständige mitgliedstaatliche Behörde (in Deutschland: Agentur für Arbeit) abgelaufen ist.
4. Ist die Anzeige nach Art. 3 gänzlich unterblieben, kann die Anzeige nicht mit der Wirkung nachgeholt werden, dass die Kündigung 30 Tage nach der Nachholung wirksam würde (Urteil „Tomann“).



A.
Problemstellung
I. 1. In der Insolvenz des Arbeitgebers ist regelmäßig eine erhebliche Änderung der Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer die Folge, meist auch Entlassungen vieler Betroffener bis zur Entlassung aller Arbeitnehmer. Der Konflikt zwischen dem Interesse des Insolvenzschuldners bzw. der Gläubiger und desjenigen der Arbeitnehmer spiegelt sich in den Vorschriften des sog. Insolvenzarbeitsrechts von § 108 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 InsO (Fortsetzung von Dienstverhältnissen, zu denen auch die Arbeitsverhältnisse i.S.d. § 611a BGB gehören) über § 113 InsO (Sonderkündigungsrecht des Insolvenzverwalters oder des Eigenverwalters, vgl. dort § 279 Satz 1 InsO) bis zu den §§ 120 bis 128 InsO, die den „Ausgleich“ der divergierenden Interessen zu lösen unternehmen. Im Rahmen des Insolvenzverfahrens sind die spezifisch arbeitsrechtlichen Regelwerke zum Individualarbeitsrecht und zum kollektiven Arbeitsrecht weiterhin anzuwenden wie beispielsweise diejenigen des BetrVG (zu Betriebsänderungen vgl. die §§ 111 ff. BetrVG), des SGB III (etwa dessen § 2 Abs. 3, der frühzeitige Unterrichtung der Arbeitsagentur vor betrieblichen Änderungen mit Folgen für die Beschäftigung erfordert) sowie des KSchG (mit den Einschränkungen des § 1 KSchG nach den §§ 125 ff. InsO).
2. Die §§ 17, 18 KSchG spielen eine besondere Rolle insoweit, als sie Anzeigepflichten bei Massenentlassungen (§ 17 KSchG) und eine Entlassungssperre (§ 18 KSchG) vorsehen. § 17 KSchG verpflichtet den Arbeitgeber (oder Insolvenzverwalter, Folge aus § 80 InsO) zur Massenentlassungsanzeige vor Entlassung innerhalb von 30 Tagen. Entlassung bedeutet „Kündigung“ oder eine andere vom Arbeitgeber veranlasste Beendigung des Arbeitsverhältnisses. § 18 KSchG bestimmt eine Entlassungssperre; Entlassungen werden erst einen Monat nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur wirksam, soweit diese nicht eine andere Anordnung trifft. Sie kann bestimmen, ob sie die Entlassungen vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige gestattet, ob sie sogar Rückwirkung auf den Tag des Antragseingangs der Anzeige erlaubt oder ob sie die Entlassungssperre auf höchstens zwei Monate ausdehnt.
Die einschlägige Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG bestimmt in Art. 4 die Dauer der Entlassungssperre auf 30 Tage, vor deren Ablauf die Entlassungen nicht wirksam werden. Die Frist kann unter bestimmten Voraussetzungen auf 60 Tage erstreckt werden.
3. Arbeitnehmer müssen sich ferner nach § 38 Abs. 1 SGB III bei der Arbeitsagentur als arbeitsuchend melden, und zwar spätestens drei Monate vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, bei späterer Kenntnis innerhalb von drei Tagen danach.
II. 1. Den Begriff der Massenentlassung definiert § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG mittels zweier Parameter, nämlich der Zahl der Beschäftigten und der Zahl der Mitarbeiter, die überschritten werden muss („Schwellenwerte“), um die Anzeigepflicht auszulösen. Die Anzeigepflicht besteht, wenn innerhalb von 30 Tagen die zugelassene Zahl von Kündigungen überschritten wird. Bei Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Mitarbeitern beläuft sich die Zahl der geplanten Entlassungen innerhalb 30 Tagen, ab deren Erreichen die Anzeigepflicht einsetzt, auf mehr als fünf Mitarbeiter (Nr. 1), bei Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Mitarbeitern auf 10% der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber auf mehr als 25 Mitarbeiter (Nr. 2) und schließlich bei Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern auf mindestens 30 Arbeitnehmer.
2. Die Massenentlassungsanzeige wird unionsrechtlich determiniert von der bereits erwähnten Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl EG 1998, Nr. L 225, S. 16, in der Fassung der Änderung durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 v. 06.10.2015, ABl EU 2015, Nr. L 263, S. 1).
III. Die Besprechungsentscheidung setzt sich mit der Vorlage des Sechsten Senats des BAG vom 23.05.2024 (6 AZR 152/22 (A)) nach Art. 267 AEUV im Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH auseinander, der zu prüfen hatte, inwieweit die unvollständige Massenentlassungsanzeige durch den Insolvenzverwalter der Luftfahrtgesellschaft Walter GmbH mit den Vorgaben der Massenentlassungsrichtlinie 89/59/EG dennoch im Einklang stehe, da das inländische Recht in Deutschland hierfür keine ausdrücklichen Sanktionen vorsehe. Eine weitere Vorlage nach Art. 267 AEUV zu der Thematik hat der Zweite Senat des BAG dem EuGH vorgelegt (C-134/24 „Tomann“, vgl. die Orientierungssätze 3 und 4 sowie nachfolgend unter C.II.).


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. 1. Über das Vermögen der regionalen Luftfahrtgesellschaft Walter mbH („LGW“) mit Sitz in Düsseldorf (Flughafen) wurde auf Eigenantrag vom 22.04.2020 am 01.07.2020 das Insolvenzverfahren durch das AG Düsseldorf/Insolvenzgericht eröffnet. LGW hatte den Betrieb infolge der Covid-19-Pandemie im April 2020 praktisch vollständig einstellen müssen. Zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung wurden 354 Mitarbeiter beschäftigt, 294 fliegendes Personal und 60 Mitarbeiter in Technik und Verwaltung (vgl. die Publikation des Insolvenzverwalters, https://www.andrespartner.de/aktuelles/pressemitteilungen/dr-dirk-andres-ist-insolvenzverwalter-der-luftfahrtgesellschaft-walter, Abruf: 11.11.2025).
2. Die Klägerin („BL“) des beim BAG anhängigen Kündigungsschutzprozesses war Flugkapitänin von LGW seit 2012. LGW leitete ab 15.06.2020 nach Insolvenzantrag, aber vor Insolvenzeröffnung, mit den Personalvertretern der Flugkapitäne das Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG ein. Am 30.06.2020 wurde die sofortige Betriebseinstellung beschlossen (vgl. dazu § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Fall 2 InsO i.V.m. § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO, da vorläufige Eigenverwaltung angeordnet worden war). Noch am Tag der Verfahrenseröffnung im Regelinsolvenzverfahren zeigte der Insolvenzverwalter die beabsichtigte Massenentlassung der Agentur für Arbeit an, ohne eine abschließende Stellungnahme der Arbeitnehmervertreter (§ 17 Abs. 3 Sätze 2, 3 KSchG) beizufügen. Die Anzeige enthielt ferner den Hinweis, das Konsultationsverfahren sei aufgenommen worden und werde fortgeführt, jedoch ohne inhaltliche Angaben zu den Gesprächen (§ 17 Abs. 3 Satz 3 letzter Halbsatz KSchG). Die Arbeitsagentur bestätigte ausdrücklich nur den Empfang der Anzeige ohne weitere Erklärungen. Der Insolvenzverwalter kündigte ebenfalls „Anfang Juli“ dem „Kabinen- und Bodenpersonal“ ohne Mitarbeitervertretungen, am 29.07.2020 „im Rahmen einer beabsichtigten Massenentlassung“ auch das Arbeitsverhältnis der Klägerin und weiterer Flugkapitäne mit einer Frist von drei Monaten (Rn. 24 der Besprechungsentscheidung), also nach § 113 InsO.
3. Die Klägerin erhob fristgerecht Kündigungsschutzklage beim ArbG Berlin u.a. mit der Begründung, das vorgeschriebene Konsultationsverfahren (§ 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG) sei nicht eingehalten worden. Das ArbG Berlin verwies an das ArbG Düsseldorf, das die Klage Ende November 2020 mit der Begründung abwies, das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen und das Konsultationsverfahren seien eingehalten worden. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das LArbG Düsseldorf (Urt. v. 28.10.2021 - 5 Sa 47/21) in einer sehr eingehenden Entscheidung zurückgewiesen, aber die Revision zugelassen.
II. 1. Das BAG (EuGH-Vorlage v. 23.05.2024 - 6 AZR 152/22 (A)) hat dem EuGH nach Art. 267 AEUV die nachfolgend unter III. wiedergegebenen drei Fragen als entscheidungsrelevant für seine Entscheidung über die Revision der Klägerin vorgelegt (Rn. 48 des Urteils des EuGH) und seine Fragestellung eingehend begründet. Im Mittelpunkt der Erwägungen des Sechsten Senats des BAG steht die Frage, ob die Kündigung ohne Einhaltung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige gemäß § 134 BGB nichtig sei, wenn das nationale Recht keine (andere) Sanktion für das Unterlassen der Massenentlassungsanzeige oder bei deren Unvollständigkeit oder Fehlerhaftigkeit vorsehe. Bei Anwendung von § 134 BGB obliege dem Arbeitgeber aufgrund Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses weiterhin die Entgeltfortzahlung bis zu erneuter Kündigung unter Einhaltung des § 17 KSchG, soweit die dortigen „Schwellenwerte“ erreicht würden (Rn. 30 des Besprechungsurteils). Der Senat wolle jedoch an dieser Rechtsprechung nicht festhalten, weil die Nichtigkeit zwar dem effet utile der Richtlinie entspreche, aber unverhältnismäßig sei. Dies deshalb, weil dadurch die unterbliebene Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde den Willen des Arbeitgebers, den individuellen Arbeitsvertrag zu kündigen, nicht beeinflussen dürfe und zum anderen diese Sanktion die Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers bei der Umsetzung der Kündigung von Arbeitsverträgen einschränke, was im Widerspruch zu der auf das EuGH-Urteil vom 21.12.2016 (C-201/15 Rn. 31 „AGET Iraklis“), zurückgehenden Rechtsprechung stehe (Rn. 32 des Besprechungsurteils).
2. Die geplante Rechtsprechungsänderung des Sechsten Senats stimme aber mit der bisherigen Judikatur des Zweiten Senats nicht überein (mit der bis dahin übereinstimmenden Judikatur beider Senate), so dass der Sechste Senat dem Großen Senat des BAG vorlegen müsste. Dies wiederum sei nach § 45 Abs. 3 ArbGG nur möglich, wenn der angefragte Senat erkläre, an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten zu wollen. Dieser sei angefragt worden, habe aber seinerseits dem EuGH Fragen zur Auslegung der Art. 3, 4 RL 98/59/EG vorgelegt (Rechtssache „Tomann“, C-134/24). Über diese Vorlage hat der EuGH ebenfalls am 30.10.2025 entschieden (vgl. unter C II.). Die Bedenken, die der Sechste Senat in seiner Vorlage erläutert hat, warum er die Vorlage des Zweiten Senats für nicht zulässig halte (Rn. 38 bis 41 des Besprechungsurteils), haben sich durch das Urteil des EuGH vom 30.10.2025 erledigt, denn der EuGH hat die Vorlage des Zweiten Senats für zulässig gehalten (EuGH, Urt. v. 30.10.2025 - C-234/24 Rn. 43 ff., 53 „Tomann“). Auf die weiteren Erwägungen der Vorlage des Zweiten Senats ist im Rahmen der Darstellung zu dem Urteil „Tomann“ (nachfolgend unter C. II) einzugehen.
III. Der Sechste Senat des BAG hat in der Sache BL/LGW dem EuGH die folgenden Fragen vorgelegt:
„1. Ist der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und somit eine Sanktion entbehrlich, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet, um ihren Aufgaben innerhalb der Fristen des Art. 4 der Richtlinie 98/59 nachkommen zu können?
Gilt dies jedenfalls dann, wenn die Erreichung des Zwecks von Art. 3 der Richtlinie 98/59 durch eine nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschrift sichergestellt ist und/oder die nationale Arbeitsagentur eine Pflicht zur Amtsermittlung hat?
2. Sofern die erste Frage verneint wird: Kann der Zweck von Art. 3 der Richtlinie 98/59 noch erfüllt werden, wenn eine fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann?
3. Wenn bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige die Entlassungssperre nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 die Sanktion für Fehler bei der Anzeige sein sollte, welcher Anwendungsbereich verbleibt dann insoweit noch für Art. 6 der Richtlinie?“
IV. Der EuGH hat entschieden, wie aus den obigen Orientierungssätzen hervorgeht, die dem Tenor entnommen sind. Er begründet seine Entscheidung wie folgt:
1. a) Wesentliches Ziel der Massenentlassungsrichtlinie sei die Konsultation der Arbeitnehmervertreter und die Unterrichtung der zuständigen Behörde. Die Konsultationen haben die Prüfung der Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder die Folgen abzumildern, zum Gegenstand, etwa durch Hilfen für anderweitigen Einsatz oder Umschulung der betroffenen Arbeitnehmer. Die Kammer weist hier auf die Verpflichtungen des Arbeitgebers nach Art. 2 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie hin. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie habe er die dortigen Angaben zu machen (u.a. die Gründe der Entlassung, die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum der geplanten Entlassungen). Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie seien Massenentlassungen frühestens 30 Tage nach der vollständigen Anzeige an die zuständige Behörde wirksam, die innerhalb dieser Frist nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie nach Möglichkeiten suchen muss, die aufgrund der Massenentlassung entstandenen Probleme zu begrenzen und die dazu eben einen Mindestzeitraum bekommen soll. Diese Anforderung der Richtlinie könne nur bei richtiger und vollständiger Anzeige von der Behörde erfüllt werden. Vorliegend seien wohl nicht alle Angaben nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 der Richtlinie erfolgt, so dass die Anzeige etwa unvollständig gewesen wäre; dies festzustellen sei Aufgabe des vorlegenden Gerichts, hier also des BAG (Rn. 54 bis 59 des Besprechungsurteils).
b) Die bloße Eingangsbestätigung der Anzeige im Fall von LGW durch die Arbeitsagentur ohne weitere Äußerung zur Ordnungsmäßigkeit der Anzeige nach den Maßgaben der Richtlinie, lasse „offensichtlich“ nicht den Schluss zu, die Behörde habe die Übereinstimmung der Anzeige mit der Richtlinie bestätigt. Diese habe zwar nicht die individuelle Lage des einzelnen von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmers zu prüfen, aber bei fehlerhaften bzw. unvollständigen Angaben könne sie ihre Aufgabe der Suche nach Problemlösungen hinsichtlich der anstehenden Massenentlassung nicht erfüllen.
c) Da diese Antwort auf Teilfrage 1 der ersten Frage dazu führt, dass der Mangel der Massenentlassungsanzeige nicht geheilt werden kann, wenn sie nicht vollständig und fehlerfrei erfolgte, hatte der EuGH die Teilfrage 2 der ersten Frage des BAG zu beantworten. Dort geht es darum, ob der Zweck des Art. 3 der Richtlinie nicht schon erreicht ist, wenn nationales Arbeitsförderungsrecht wie § 2 SGB III die Kooperation zwischen Arbeitgeber und Arbeitsbehörde vorsieht, um Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden oder abzumildern, auch wenn das nicht in den §§ 17, 18 KSchG so geregelt ist oder wenn die Arbeitsbehörde zur Amtsermittlung verpflichtet ist. Hier meint der EuGH, der Arbeitgeber könne sich von seinen Verpflichtungen zu ordnungsgemäßer und vollständiger Anzeige nicht durch Heilung seitens der amtswegig handelnden Behörde befreien.
2. Die zweite Frage zur Auslegung des Art. 3 der Richtlinie sei hypothetisch, denn der Insolvenzverwalter habe die fehlerhafte Massenentlassungsanzeige gar nicht versucht zu korrigieren und somit die Ordnungsgemäßheit der Anzeige herzustellen. Auf offensichtlich hypothetische Fragen wie hier habe der Gerichtshof nicht zu antworten, die Frage 2 sei daher unzulässig.
3. a) Auf die dritte Frage stellt die Kammer zunächst fest, es handle sich dabei um eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 RL und Art. 6 RL und zwar insbesondere bei der Fallkonstellation, die dadurch geprägt ist, dass die Anzeige fehlerhaft bzw. unvollständig sei mit der Folge, dass die 30-Tage-Frist des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nicht beginnt, bis eine ordnungsgemäße Anzeige erfolgt ist. Art. 6 der Richtlinie habe einen anderen Gegenstand, nämlich den Arbeitnehmern Rechtsinstrumente zur Gewährleistung der Einhaltung der Verpflichtungen der Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Einzelheiten dazu seien Sache der Mitgliedstaaten. Allerdings hätten die Mitgliedstaaten gegenüber den Arbeitnehmern bei der Umsetzung einen „effektiven und wirksamen sowie [die Arbeitgeber von Fehlverhalten] abschreckenden“ Rechtsschutz nach Art. 47 GRCh zu gewährleisten; die Kammer beruft sich dabei auf die Rechtssache „Mono Car Styling“ (EuGH, Urt. v. 16.07.2009 - C-12/08 Rn. 35, zum effet utile der Richtlinie). Die Mitgliedstaaten könnten daher die Verfahren zur Einhaltung der Vorgaben der Richtlinie ausgestalten, hätten aber dabei ihre praktische Wirksamkeit („effet utile“) zu wahren. Die Kammer arbeitet sodann die unterschiedlichen Ziele der Art. 4 und 6 der Richtlinie heraus. Die Mindestfrist von 30 Tagen in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie bis zur Wirksamkeit der Massenentlassungen sei nur Rechtsfolge nicht ordnungsgemäßer (oder fehlender) Anzeige im Hinblick auf die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmervertreter.
b) Art. 6 der Richtlinie hingegen solle die Einhaltung des Verfahrens gewährleisten, insbesondere der Mitteilung der Einzelheiten (i.S.d. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie) der geplanten Massenentlassung. Aus dem Blick des vorlegenden Gerichts sehe das nationale Recht bei mangelhafter (oder unterbliebener) Anzeige nur vor, die Kündigungsfrist für 30 Tage auszusetzen. Angesichts der unterschiedlichen Ziele der Art. 4 und 6 der Richtlinie sei das nicht ausreichend.
Die bloße Aussetzung der Kündigungsfrist nach Art. 4 der Richtlinie sei daher nicht hinreichend, den Zielen der Richtlinie nachzukommen. Vielmehr liege es an den Mitgliedstaaten, „wirksame, effiziente und verhältnismäßige Maßnahmen“ zu erlassen, um den Arbeitgeber zur Einhaltung der Pflichten zur Ordnungsgemäßheit der Anzeige zu veranlassen. Daraus leitet die Kammer dann Ziff. 2 des Tenors ab, der oben im Orientierungssatz unter 2. (soweit hier relevant) wiedergegeben ist.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Ausgangspunkt des Verfahrensgegenstandes im Urteil „Sewel“ wie dem Urteil „Tomann“ (vgl. unter II.) ist der Umstand, dass weder § 17 KSchG noch die RL 98/59/EG ausdrücklich eine Sanktionsfolge an die fehlende oder nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige an die zuständige Behörde (in Deutschland: Arbeitsagentur) knüpfen. Den Auftakt in der Judikatur des EuGH bildet das Urteil „Junk/AWO […] Südwest“ (EuGH, Urt. v. 27.01.2005 - C-188/03, Vorlage des ArbG Berlin). Der EuGH hat dort entschieden, die Kündigung durch den Arbeitgeber sei das Ereignis der Entlassung im Sinne der Richtlinie. Der Arbeitgeber dürfe kündigen „nach Ende des Konsultationsverfahrens und nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung“ i.S.d. Art. 3, 4 RL 98/59/EG. Den nächsten Schritt ging das BAG (2. Senat, Urt. v. 22.11.2012 - 2 AZR 371/11), das unter Hinweis auf das Urteil „Junk“ feststellte, die Sanktion bei Verstößen gegen die Massenentlassungsanzeige obliege den Mitgliedstaaten, die sich aber nach der Rechtsprechung des EuGH zu Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht richten und daher „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müsse (Hinweis auf EuGH, Urt. v. 08.06.1994 - C-383/92 „EU-Kommission/Großbritannien“; vgl. BAG, Urt. v. 22.11.2012 - 2 AZR 371/11 Rn. 32). Der Senat hat sodann § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 17 Abs. 3 Sätze 2, 3 KSchG in Umsetzung dieser Erwägungen als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB gewertet. Die vom BAG nach dem Besprechungsurteil und nach dem Urteil „Tomann“ geäußerten Zweifel an dieser damaligen Entscheidung sind Gegenstand der beiden Entscheidungen des EuGH vom 30.10.2025.
II. 1. Das vorliegende Urteil „SEWEL“ hängt eng zusammen mit einer Vorlage des Zweiten Senats des BAG im Rechtsstreit „Tomann“ (vgl. die Orientierungssätze 3 und 4 oben). Die Rechtssache Tomann betrifft in einem ebenfalls inländischen Fall vor dem BAG die Entlassung eines Arbeitnehmers DF, der bald 30 Jahre bei einer V GmbH beschäftigt war, über deren Vermögen am 01.12.2020 das Regelinsolvenzverfahren mit dem Insolvenzverwalter UR eröffnet worden ist. UR kündigte am 02.12.2020 das Arbeitsverhältnis mit DF zum 31.03.2021 (also nach § 113 InsO) und weiteren Mitarbeitern der V., insgesamt mehr als fünf Arbeitnehmern. Die Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG (i.V.m. Art. 3 RL 98/59/EG) an die Arbeitsagentur wurde nicht vorgenommen. Im Kündigungsschutzprozess von DV gegen den Insolvenzverwalter war streitig, ob die Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG erreicht waren. Das ArbG Hamburg gab der Klage von DF statt, die Berufung des Insolvenzverwalters zum LArbG Hamburg war im Februar 2022 erfolglos.
2. Die Revision des Insolvenzverwalters UR wurde beim Sechsten Senat des BAG anhängig, der durch Beschluss im Mai 2023 feststellte, die Schwellenwerte des § 17 KSchG würden erreicht, die Massenentlassungsanzeige hätte daher durch den Insolvenzverwalter UR erfolgen müssen.
3. a) In einem weiteren Beschluss vom Dezember 2023 wies der Sechste Senat darauf hin, von seiner bisherigen Judikatur abweichen zu wollen, die als Sanktion unterbliebener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB folgen ließ. Hieran wolle er nicht mehr festhalten, denn die Bestimmung einer solchen Sanktion sei allein dem Gesetzgeber vorbehalten. Eine derartige Sanktion sehe auch Art. 4 Abs. 1 RL 98/59/EG nicht vor (Urteil Tomann Rn. 25 f.). Der Sechste Senat sehe sich jedoch an einer Rechtsprechungsänderung durch entsprechende Judikatur des Zweiten Senats des BAG gehindert, so dass er den Großen Senat des BAG im Hinblick auf die mit seiner geplanten Rechtsprechungsänderung einhergehende Divergenz zum Zweiten Senat anrufen müsse. Dies setze nach § 45 Abs. 3 ArbGG aber die Anfrage beim Zweiten Senat voraus, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalte (die mit der Rechtsauffassung des Sechsten Senats übereinstimmte). Die innergerichtliche Anfrage an den Zweiten Senat wurde von diesem an den Sechsten Senat dahin beantwortet, dass man differenziere. Zwar stimme man dem Sechsten Senat dahin zu, dass die Nichtigkeitsfolge von Kündigungen bei unterbliebener Massenentlassungsanzeige unverhältnismäßig sein könne, insbesondere nach Maßgabe des Unionsrechts. Der Zweite Senat differenziert dann aber zwischen den Fällen vollständig unterbliebener Anzeige und den Fällen materiell-rechtlich und/oder verfahrensrechtlich fehlerhafter oder unvollständiger Anzeige nach den §§ 17, 18 KSchG und nach der RL 98/59/EG. Im Fall der nicht den Anforderungen von KSchG und Richtlinie genügenden, aber erfolgten Anzeige, vertrete er die Ansicht, die Frist von 30 Tagen könne erst „an- und ablaufen“ (Urteil „Tomann“ Rn. 34), wenn die Anzeige den Anforderungen der Richtlinie entspreche. Im ersteren Fall der vollständig unterbliebenen Anzeige sei die Wirkung einer Kündigung nach § 18 KSchG „ausgesetzt“, bis die Massenentlassungsanzeige doch noch erfolgt sei. Vor dem Hintergrund des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie stelle sich aber die Frage, ob die ohne die Anzeige ausgesprochenen Kündigungen nach der dann zeitlich nachfolgend erfolgten Anzeige wirksam würden, ohne nochmals die Kündigungen erklären zu müssen. Diese Differenzierung ist von erheblicher Bedeutung, da damit alle kündigungsschutzrechtlichen Aspekte neu zu prüfen sind, eine neue Kündigungsschutzklage ist zulässig.
b) Aus dieser innergerichtlichen Thematik aufgrund des § 45 Abs. 3 ArbGG hat dann der Zweite Senat vier Fragen abgeleitet, die er im Rahmen einer eigenen Vorlage nach Art. 267 AEUV dem EuGH vorgelegt hat. Dies, obwohl nicht der Zweite Senat des BAG, sondern der Sechste Senat für die Entscheidung im Revisionsverfahren „UR/DV“ zuständig sei (vgl. Rn. 23 und 48 ff. des Urteils „Tomann“ zur Zulässigkeit der Vorlage des Zweiten Senats des BAG). Die Vorlage des Zweiten Senats war zulässig, da sie aus dem Blick des EuGH zur Klärung von Auslegungsdifferenzen der Massenentlassungsrichtlinie zwischen den beiden Senaten dienen sollte, die wiederum wesentlich für die Urteilsfindung des Sechsten Senats des BAG in Sachen UR/DV („Tomann“) sind.
c) Von den Fragen des Zweiten Senats hat der EuGH die zweite und die vierte Frage als unzulässig zurückgewiesen und die Fragen 1 und 3 beantwortet. Mit der zweiten Frage wollte der Zweite Senat wissen. ob der Ablauf der 30-tägigen Entlassungssperre (Art. 4 der Richtlinie, ein Monat nach § 18 Abs. 1 der Richtlinie) nicht nur die Massenentlassungsanzeige voraussetze, sondern auch, ob diese zudem den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie entsprechen müsse. Dazu meint der EuGH, bei dieser Frage gehe es mangels Einreichung einer Massenentlassungsanzeige gerade nicht um deren Inhalt nach Art. 3 der Richtlinie, sondern um die Sanktion; die Frage sei daher hypothetisch und unzulässig im Verfahren nach Art. 267 AEUV. Die vierte Frage des Zweiten Senats ging dahin, ob § 18 Abs. 2 KSchG mit der Befugnis der Arbeitsagentur, die Entlassungssperre im Einzelfall auf bis zwei Monate nach Eingang der Anzeige zu erstrecken, mit Art. 6 der Richtlinie vereinbar sei oder ob dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Frist zur Verfügung stehen müsse. Die Anzeige war nicht erfolgt, die Arbeitsagentur hatte eine solche Anordnung nicht getroffen, so dass auch diese Frage aus dem Blick des EuGH hypothetisch und unzulässig war.
4. Der EuGH (5. Kammer, wie im Parallelurteil „Sewel“) hat dem Zweiten Senat sodann auf dessen erste und dritte Frage geantwortet, wie aus den Orientierungssätzen 3 und 4 hervorgeht: Die Kündigung eines Arbeitsvertrags wird danach erst nach Ablauf der Frist von 30 Tagen (nach dem KSchG ein Monat) nach dem Eingang der Anzeige (bei der zuständigen Behörde) wirksam. Ist die Anzeige überhaupt nicht erfolgt, kann die Kündigung nicht 30 Tage nach Nachholung der Anzeige wirksam werden. Mit anderen Worten ist eine (erstmalige) Massenentlassungsanzeige und ist eine erneute Kündigung notwendig, die frühere unwirksam.
III. Ergebnis des EuGH im Besprechungsurteil „Sewel“, dogmatisch verklammert mit den Aussagen im Urteil „Tomann“, ist, dass die geplante Rechtsprechungsänderung des Sechsten Senats des BAG nicht in Frage kommen wird. Im Ergebnis bleibt es dabei, dass die unterbliebene oder nicht ordnungsgemäße Anzeige weiterhin nach der bisherigen Rechtslage gemäß der Judikatur des BAG (beide befasste Senate) hierzulande dazu führt, dass die Kündigung von Arbeitsverträgen, die unter den Begriff der Massenentlassung fallen, unter § 134 BGB subsumiert bleiben wird. Den Einwand des Sechsten Senats gegen die weitreichende Sanktion des § 134 BGB bei Verstoß gegen die Massenentlassungsrichtlinie, er sehe diese als unverhältnismäßig an, weil die Anzeige den Willen des Arbeitgebers zur individuellen Kündigung nicht beeinflussen dürfe und die Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers beeinträchtige, teilt der EuGH ersichtlich nicht (Rn. 30 ff. des Besprechungsurteils).
IV. Das Ergebnis des EuGH bedeutet daher Folgendes: Die Massenentlassungsrichtlinie bzw. die Anzeige an die Arbeitsagentur bleiben bei Massenkündigungen nach der gesetzlichen Definition faktisch ein bedeutsamer Umstand, rechtlich wie wirtschaftlich. Das ist der Fall in all denjenigen Unternehmenskrisen, die mit erheblichem Personalabbau einhergehen, insbesondere aber in der Insolvenz des Arbeitgebers, auch wenn eine übertragende Sanierung oder ein Fortführungsinsolvenzplan umgesetzt werden können. Die Wirksamkeit der Kündigung tritt bei Versäumnissen im Zusammenhang mit der Massenentlassungsanzeige (nach der RL 98/59/EG wie nach §§ 17, 18 KSchG) nicht ein, auch wenn alle (sonstigen) Voraussetzungen der (betriebsbedingten!) Kündigung nach dem KSchG, die Vorgaben für Betriebsänderungen nach dem BetrVG und die Vorgaben des Insolvenzarbeitsrechts (§ 113 InsO, §§ 120 ff. InsO) sowie weiterer Kündigungsschutzvorschriften eingehalten sind. Die Massenentlassungsanzeige muss im Detail ordnungsgemäß erfolgt sein. Die notwendigen umfänglichen Angaben nach § 17 Abs. 3 KSchG führen wie alle komplexen Vorschriften zu deutlichem Fehlerpotenzial auf der Seite des Anzeigeverpflichteten.
V. „Nachholung“ oder „Heilung“ eines Fehlers der Massenentlassungsanzeige sind nach den vom EuGH hervorgehobenen Kriterien der Effizienz, der Wirksamkeit und der Verhältnismäßigkeit nicht möglich. Irgendwann im Prozessverfahren der Kündigungsschutzklage festgestellte Mängel der Massenentlassungsanzeige führen zur Nichtigkeit der Kündigungen, die unter „Massenentlassung“ fallen. Den Begriff der Verhältnismäßigkeit sieht der EuGH offenbar aus dem Blick der betroffenen Arbeitnehmer. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist von daher unverhältnismäßig, wenn die Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß war und daher – so die Sichtweise des EuGH – eine Prüfung durch die Arbeitsagentur (und Arbeitnehmervertreter) dahin, ob und wie ggf. die Kündigungen vermeidbar sind oder jedenfalls die Kündigungsfolgen abgemildert werden können, nicht (hinreichend) möglich ist.
VI. Rückt damit die Norm des § 17 Abs. 3 KSchG wie diejenige des § 18 KSchG in den Mittelpunkt, stellt sich zur negativen Abgrenzung die Frage, welche fehlerhaften oder unterlassenen Detailangaben in der Massenentlassungsanzeige von so geringer Bedeutung sind, dass sie die Rechtsfolge des § 134 BGB für die Kündigungen (ausnahmsweise) nicht auslösen. Dazu hat das BAG beispielsweise entschieden, die unrichtige Angabe der Zahl der Arbeitnehmer in der Massenentlassungsanzeige führe nur dann zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn die fehlerhafte Angabe Einfluss auf die Arbeitsagentur haben könne. Das sei bei einer „marginalen“ Abweichung nicht anzunehmen, zumal, wenn die mitgeteilte Zahl der betroffenen Arbeitnehmer zu hoch (!) angegeben worden sei (BAG, Urt. v. 18.06.2025 - 2 AZR 91/24 (B), „teilweise“ Parallelentscheidung zu 2 AZR 96/24 (B)). Nur marginale Abweichungen sind daher unschädlich. Mit anderen Worten zeigt das Beispiel, dass die Massenentlassungsanzeige wie erwähnt bedeutendes Fehler- und Risikopotenzial in sich birgt. Die Antwort auf die Frage, ob im Kündigungsschutzprozess festgestellte Fehler oder Unterlassungen in der Massenentlassungsanzeige als „marginal“ und unbeachtlich beurteilt werden, ist in der Praxis kaum vorherzusagen.
VII. Folge ist, dass der Arbeitgeber bzw. der Insolvenzverwalter ein erhebliches Zahlungsrisiko bzw. Liquiditätsrisiko haben, denn der Fehler der Anzeige und die Unwirksamkeit der Kündigungen kann sich erst lange Zeit nach der scheinbar ordnungsgemäßen Anzeige der Kündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist im Kündigungsschutzprozess ergeben. Allerdings ist das Risiko beschränkt auf diejenigen Arbeitnehmer, die gegen die Entlassung Kündigungsschutzklage erheben. Das ist die Folge aus § 4 Abs. 1 Satz 1 KSchG mit der Notwendigkeit der fristgerechten Kündigungsschutzklage, hier (auch) mit der Begründung, die Kündigung sei „aus anderen Gründen“ rechtsunwirksam, nicht nur, weil sie sozial ungerechtfertigt i.S.d. § 1 KSchG sei. Allerdings ist das Zahlungsrisiko ggf. nach § 11 Nr. 1, 2 KSchG gemindert, der im Kündigungsschutzprozess an die Stelle des § 615 Satz 2 BGB tritt (Weidenkaff in: Grüneberg, BGB, 2025, § 615 Rn. 2 m.w.N.). Sozialleistungen, die der Arbeitnehmer erhalten hat, müssen vom Arbeitgeber bzw. Insolvenzverwalter aber der leistenden Behörde erstattet werden (§ 11 Nr. 3 KSchG).
VIII. Da die Kündigung der Klägerin im Fall „BL“ (LGW) und des Klägers in dem Fall „UR/DV“ damit vom BAG wohl für unwirksam erklärt werden wird, muss den Klägern das Entgelt unter Beachtung des § 11 KSchG als Masseverbindlichkeit bezahlt werden. Die Kündigung muss nach ordnungsgemäßer Anzeige wiederholt werden. Unklar erscheint, was geschieht, wenn die von der ursprünglich unterbliebenen bzw. fehlerhaften Massenentlassungsanzeige betroffenen Arbeitnehmer bis auf wenige Ausnahmen keine Kündigungsschutzklage erhoben haben und die Zahl der nach erfolgreicher Kündigungsschutzklage verbleibenden Kläger unterhalb der Schwellenwerte liegt, die für eine solche neue Anzeige erforderlich ist. In der Praxis ist dann auch die Zahl der „regelmäßig beschäftigten“ Arbeitnehmer geringer als die Schwellenwerte der Beschäftigtenzahl in der Richtlinie und in § 17 KSchG. In diesen Fällen dürfte die RL 98/59/EG wie die §§ 17, 18 KSchG gegenstandslos geworden sein, da die beiden Regelwerke solche Konstellationen von ihrem Anwendungsbereich ausnehmen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
I. Die oben umrissene Rechtsprechung des EuGH zur RL 98/59/EG führt dazu, dass das BAG seine Rechtsprechung, beginnend mit dem Urteil zu 2 AZR 371/11 (vgl. unter C. I.) nicht ändern kann. Mangels anderer Sanktion, die den Anforderungen des EuGH zur Wahrung der RL 98/50/EG genügen dürfte, verbleibt es bei der Anwendung des § 134 BGB bei Mängeln oder Unterlassung der Massenentlassungsanzeige.
II. Wurde in der Anzeige etwas übersehen und im Kündigungsschutzprozess vorgebracht, verliert der Insolvenzverwalter die Klage mit der Folge der Weiterzahlung der Entgelte der betroffenen Arbeitnehmer. Dies wiederum zehrt ggf. die Masse aus, weil die relevanten Entgeltforderungen nach Insolvenzeröffnung Masseverbindlichkeiten sind, und zwar oktroyierte Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO (vgl. Langer in: MünchKomm InsO, 5. Aufl. 2025, § 55 Rn. 171; BAG, Urt. v. 14.11.2012 - 10 AZR 3/12 - NZA 2013, 327, st. Rspr.). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Insolvenzverwalter daraus Haftungsrisiken aus § 61 InsO drohen.
III. Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften werden daher ebenso wie Unternehmen und ihre Insolvenzverwalter auch künftig sorgfältig darauf achten, ob alle Voraussetzungen der Massenentlassungszeige eingehalten sind, da Mängel nicht heilbar sind, sondern eine neue Massenentlassungsanzeige geboten ist, was zugleich eine Verlängerung der Insolvenzverfahren bedeutet. Die Kündigungsfrist beginnt dann nach Ablauf der Monatsfrist nach § 17 Abs. 1 KSchG nach Eingang der ordnungsgemäßen Anzeige bei der Arbeitsagentur. Kündigungsfrist ist im eröffneten Insolvenzverfahren diejenige nach § 113 InsO.
Die Bundesagentur für Arbeit hat ein „Merkblatt 5 - Anzeigepflichtige Entlassungen“ (Stand: September 2025) herausgebracht, das Arbeitgebern bzw. Insolvenzverwaltung eine Handreichung gibt, wie zu verfahren bzw. worauf zu achten ist.
IV. Arbeitnehmer bzw. ihre Prozessvertreter werden im Kündigungsschutzprozess ferner darauf achten, ihnen bekannte Einwendungen gegen die Ordnungsmäßigkeit der Massenentlassungsanzeige rechtzeitig vorzutragen, um nicht präkludiert zu werden (§ 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 296 ZPO), wenn auch die Präklusionsvorschriften im Arbeitsgerichtsprozess restriktiv angewendet werden.
V. Erhebt der Arbeitnehmer keine Kündigungsschutzklage, spielt in seinem individuellen Fall das Unterbleiben der Massenentlassungsanzeige oder ihrer Fehlerhaftigkeit keine Rolle, da die Arbeitnehmerrechte nach der RL 98/59/EG (Vorgängerregelwerk war die RL 75/129/EG) auf Information und Konsultation kollektive Rechte sind (EuGH, Urt. v. 16.07.2009 - C-12/08 Rn. 42 ff. „Mono Car Styling“, ein belgischer Fall). Kann der betroffene Arbeitnehmer ohne besondere Voraussetzungen Klage mit der Begründung erheben, die Anzeige sei nicht erfolgt oder fehlerhaft, so verstoßen darüber hinausgehende Voraussetzungen einer Klage gegen die Entlassung nicht gegen den effet utile der Richtlinie (Urteil „Mono Car Styling“ Rn. 43 bis 45). So sieht die Rechtslage strukturell auch in Deutschland aus. Der von Massenentlassung betroffene Arbeitnehmer kann im Rahmen der Kündigungsschutzklage Einwendungen gegen die Ordnungsmäßigkeit einer Entlassungsanzeige erheben bzw. vortragen, eine solche sei nicht einmal erfolgt (§ 4 Satz 1 Halbsatz 2 Fall 2 KSchG). Ist dies der Fall, ist die Kündigung nichtig nach § 134 BGB. Er muss allerdings die allgemeinen Voraussetzungen der Kündigungsschutzklage einhalten, nämlich insbesondere die Klagefrist nach § 4 Satz 1 KSchG. Diese Regelung ist richtlinienkonform und im Einklang mit dem effet utile der Richtlinie.



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