Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger erwarb am 08.12. des Streitjahrs 2015 232.342 Teilschuldverschreibungen einer Indexanleihe für insgesamt 30.008.978,04 Euro. Nach den Emissionsbedingungen waren die Wertpapiere mit 15,74% pro anno zu verzinsen. Über die Laufzeit ergaben sich Zinsen i.H.v. 245.802,73 Euro. Am Rückzahlungstermin hatte der Emittent nach den Anleihebedingungen und abhängig von der Entwicklung der Referenzwerte entweder nur Geld zu zahlen oder Wertpapiere zu liefern und Geld zu zahlen. Nach den Emissionsbedingungen entspricht, sofern der Referenzpreis des Basiswerts den Basispreis unterschreitet und auf bzw. über 85,00% des Basispreises liegt, der wirtschaftliche Gegenwert der Rückzahlung dem mit dem Bezugsverhältnis multiplizierten Referenzpreis des Basiswerts, wobei 1,00 Indexpunkt 1 Euro entspricht. Die Rückzahlung erfolgt in diesem Fall durch Übertragung des Liefergegenstandes sowie Zahlung einer Gegenleistung in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags (der „Rückzahlungsbetrag“). Der Rückzahlungsbetrag im Sinne dieses Absatzes entspricht der Differenz aus (i) dem Nennbetrag und (ii) dem mit dem Bezugsverhältnis multiplizierten von der Relevanten Referenzstelle am Bewertungstag festgestellten Schlusskurs des TecDAX®, wobei 1,00 Indexpunkt 1 Euro entspricht.
Als Liefergegenstand war je Teilschuldverschreibung ein Open-End-Partizipationszertifikat auf den TecDAX vereinbart. Der Basiswert betrug 12.912 Indexpunkte. Der Referenzpreis sollte nach § 3 Abs. 3 der Emissionsbedingungen am 18.12.2015 festgestellt werden. Am 18.12.2015 ergab sich nach den maßgeblichen Ständen von DAX und TecDAX ein Referenzpreis von 12.407,96 Indexpunkten. Dieser betrug weniger als 100%, aber mehr als 85% des Basispreises von 12.912 Indexpunkten. Dementsprechend erhielt der Kläger bei Fälligkeit (am 28.12.2015) je Teilschuldverschreibung ein Open-End-Partizipationszertifikat auf den TecDAX zum Kurswert von 18,0832 Euro und eine Geldzahlung i.H.v. insgesamt 24.627.415,61 Euro.
Der Kläger war Alleingesellschafter einer GmbH. Mit Vertrag vom 29.12.2015 veräußerte er alle aus dem Geschäft vom 08.12.2015 erhaltenen TecDAX-Zertifikate an die GmbH für 4.233.271,24 Euro.
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machten die Kläger aus der Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die GmbH einen Veräußerungsverlust i.H.v. 25.775.706,80 Euro geltend, der tariflich zu besteuern und mit positiven Einkünften des Klägers aus anderen Einkunftsarten auszugleichen sei. Die Anschaffungskosten der ursprünglich erworbenen Teilschuldverschreibungen i.H.v. 30.008.978,04 Euro seien nach § 20 Abs. 4a Satz 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG) auf die TecDAX-Zertifikate übergegangen.
Die Finanzverwaltung ging davon aus, dass der Verlust aus der Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die GmbH mit dem gesonderten Tarif zu besteuern sei. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 Buchst. b EStG sei nicht anzuwenden. Die Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die GmbH sei ein Gestaltungsmissbrauch. Bei der gebotenen einheitlichen Betrachtung ergebe sich aus den im Streitfall verwirklichten Transaktionen ein Gesamtverlust i.H.v. 902.489 Euro, der mit dem gesonderten Tarif zu besteuern sei. Dem folgend erhöhte das Finanzamt die festgesetzte Einkommensteuer mit nach § 164 Abs. 2 AO geändertem Bescheid vom 05.04.2019 auf 35.272.043 Euro (tarifliche Einkommensteuer: 31.115.015 Euro sowie nach dem gesonderten Tarif berechnete Einkommensteuer: 4.161.835 Euro).
Im Klageverfahren war vor allem streitig, ob der Kläger beim Erwerb der Indexanleihe mit Einkünfteerzielungsabsicht gehandelt habe und ob § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG wegen Missbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts nicht anzuwenden sei.
Das Finanzgericht gab der Klage statt. Der Kläger habe die Indexanleihe mit Einkünfteerzielungsabsicht erworben. Es habe sich um eine „übliche Kapitalanlage“ gehandelt, deren Entwicklung beim Erwerb nicht vorhersehbar gewesen sei und die für den Kläger auch einen Gewinn hätte erbringen können. Das Finanzgericht nahm weiter (stillschweigend) an, die Einlösung der Indexanleihe zu den in den Emissionsbedingungen festgelegten Konditionen (gegen Lieferung von TecDAX-Zertifikaten und Zahlung eines Barbetrages) unterfalle § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG. Die Barzahlung gelte als Kapitalertrag (§ 20 Abs. 4a Satz 2 EStG) und sei mit dem gesonderten Tarif zu besteuern. Die Anschaffungskosten der Indexanleihe seien in voller Höhe auf die TecDAX-Zertifikate übergegangen. Aus der Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die vom Kläger allein beherrschte GmbH habe der Kläger deshalb einen (der Höhe nach unstreitigen) steuerbaren Veräußerungsverlust i.H.v. 25.775.706,80 Euro erzielt. Darauf sei der gesonderte Tarif nicht anzuwenden (§ 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 Buchst. b EStG). Die Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die GmbH sei kein Gestaltungsmissbrauch. Der Verlust könne mit positiven Einkünften der Kläger aus anderen Einkunftsarten ausgeglichen werden (EFG 2022, 1681).
Die Revision des Finanzamtes führte zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
Das Finanzgericht hat das Vorliegen der Einkünfteerzielungsabsicht bindend festgestellt (1.). Entgegen der Auffassung des Finanzgericht ist § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG auf den Streitfall aber nicht anzuwenden (2.). Die Sache ist spruchreif, die Klage ist abzuweisen (3.).
1. Das Finanzgericht hat festgestellt, dass es sich bei den am 08.12.2015 vom Kläger erworbenen Teilschuldverschreibungen der Indexanleihe um übliche Kapitalanlagen gehandelt habe, bei denen nicht vorhersehbar gewesen sei, ob sie sich für den Anleger positiv oder negativ entwickeln würden. Ein wirtschaftlicher Gewinn des Anlegers sei deshalb möglich gewesen. An diese auf tatsächlichem Gebiet liegenden Feststellungen und Würdigungen des Finanzgerichts ist der BFH im Revisionsverfahren gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Danach liegen keine tatsächlichen Anhaltspunkte vor, dass ein Verlust von vornherein feststand oder beabsichtigt war. Das Finanzgericht hat deshalb ohne Rechtsfehler die Vermutung für das Vorliegen der Einkünfteerzielungsabsicht als nicht widerlegt angesehen.
2. Soweit das Finanzgericht die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG (stillschweigend) bejaht hat, hält das Urteil revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Nach den Anleihebedingungen war der Emittent der Anleihe nach dem Ergebnis der Bewertung am 18.12.2015 bei Fälligkeit der Anleihe (am 28.12.2015) verpflichtet, an den Inhaber je Teilschuldverschreibung ein TecDAX-Zertifikat zu liefern und einen bestimmten Geldbetrag zu bezahlen. Der Emittent hatte weder am 28.12.2015 noch davor das Recht, anstelle dieser Leistungen die Anleihe in Geld zurückzuzahlen; der Inhaber hätte vom Emittenten auch zu keinem Zeitpunkt die Rückzahlung ausschließlich in Geld verlangen können. Vielmehr stand nach den vereinbarten Bedingungen und der Bewertung am 18.12.2015 für beide Seiten bindend fest, dass sich das Szenario gemäß § 3 Abs. 2 Buchst. c der Anleihebedingungen verwirklicht hatte, für welches die Rechtsfolgen zwingend vorgegeben waren. Innerhalb des Vertrags hatten weder der Emittent noch der Inhaber die Möglichkeit, einseitig auf die Modalitäten der Erfüllung ändernd einzuwirken. Dies ergibt sich ohne Auslegung unmittelbar aus dem Vertrag.
Aber selbst wenn darin eine Auslegung zu sehen wäre, wäre der Senat befugt, die Anleihebedingungen selbst auszulegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH unterliegt die Auslegung von Vereinbarungen mit korporationsrechtlichem Inhalt der freien Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Der Grund dafür ist, dass solche Regeln für einen unbestimmten Personenkreis, insbesondere für die Gläubiger und künftigen Gesellschafter, bestimmt sind und deshalb einheitlich ausgelegt werden müssen (BFH, Urt. v. 21.01.2016 - I R 22/14 Rn. 18 - BStBl II 2017, 336; BFH, Urt. v. 28.11.2007 - I R 94/06 unter II.3.a - BFHE 220, 51). Nichts anderes gilt für Anleihebedingungen, die als Allgemeine Geschäftsbedingungen objektiv und nicht am Willen der konkreten Vertragsparteien orientiert auszulegen sind. Die hier zu beurteilenden Anleihebedingungen liegen – senatsbekannt – (im Wesentlichen gleich) auch den Verfahren VIII R 18/23 und VIII R 35/23 zugrunde. Da ihr Anwendungsbereich im Streitfall zudem über den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Finanzgerichts hinausgeht, könnte sie der Senat deshalb selbst auslegen (vgl. auch BGH, Urt. v. 30.06.2009 - XI ZR 364/08 unter II.1.a m.w.N. - DB 2009, 1701).
b) Insoweit wirft der Streitfall vor allem die Frage auf, ob die Voraussetzungen des § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG vorliegen, obwohl unstreitig innerhalb des laufenden Vertrags weder der Emittent noch der Inhaber die Möglichkeit hatten, einseitig auf die Modalitäten der Erfüllung der Rückzahlungsverpflichtung ändernd einzuwirken. Streitig ist danach zunächst, ob § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG ein einseitiges Recht des Inhabers oder des Emittenten voraussetzt, anstelle der Rückzahlung von Geld die Lieferung von Wertpapieren verlangen oder andienen zu können. Wird dies bejaht, käme im Streitfall allenfalls eine antizipierte Ausübung eines Andienungsrechts des Emittenten, zum Beispiel durch die einseitige Ausgestaltung der Anleihebedingungen in Betracht. Das würde voraussetzen, dass ein Andienungsrecht des Emittenten schon vor Festlegung der Anleihebedingungen bestehen kann und, wenn dies bejaht wird, dass der Emittent von diesem Andienungsrecht im Sinne der Vorschrift Gebrauch macht, indem er in den Anleihebedingungen einseitig nicht mehr änderbare Erfüllungsmodalitäten vorgibt. Diese Fragen werden, soweit sie überhaupt aufgeworfen werden, in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beantwortet.
c) Die Rechtsprechung hat § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG bisher nicht einheitlich angewandt.
aa) In Fällen, in denen entweder der Inhaber oder der Emittent frei und einseitig zwischen der Rückzahlung der Anleihe oder der Lieferung von Wertpapieren bei Fälligkeit wählen konnten, hat die Rechtsprechung die Voraussetzungen von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG jeweils bejaht, ohne dazu im Einzelnen Stellung zu nehmen (Fälle mit Inhaber-Wahlrecht: FG München, Urt. v. 27.10.2023 - 8 K 797/22 - EFG 2024, 565, Revisionsverfahren beim BFH unter Az.: VIII R 33/23; FG München, Urt. v. 24.07.2024 - 1 K 260/21, n.v. und dazu BFH, Urt. v. 03.06.2025 - VIII R 23/24 n.v.; FG München, Urt. v. 06.12.2023 - 9 K 1034/22 - EFG 2024, 1575 und BFH, Urt. v. 03.06.2025 - VIII R 5/24, zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen; Fall mit Emittenten-Wahlrecht: FG München, Urt. v. 29.09.2020 - 5 K 2870/19 - EFG 2021, 111 und nachfolgend BFH, Urt. v. 08.05.2024 - VIII R 28/20 - BFH/NV 2024, 1370).
bb) In anderen Fällen, in denen weder der Inhaber noch der Emittent aufgrund der Anleihebedingungen frei und einseitig zwischen der Rückzahlung der Anleihe in Geld oder der Lieferung von Wertpapieren wählen konnten, sondern in denen (unter anderem) die Lieferung von Wertpapieren in Abhängigkeit von der Entwicklung der Basiswerte für beide Seiten bindend und eindeutig (wenn auch unter Bedingungen) in den Anleihebedingungen festgelegt war, haben die Finanzgerichte unterschiedlich entschieden (Anwendbarkeit von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG bejaht: FG Nürnberg, Urt. v. 30.03.2022 - 3 K 1470/19 - EFG 2022, 1681 (Streitfall); FG Düsseldorf, Urt. v. 06.06.2023 - 13 K 84/22 E - EFG 2023, 1308 und dazu nachfolgend BFH, Urt. v. 03.06.2025 - VIII R 18/23, nicht zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen; a.A.: FG Düsseldorf, Urt. v. 08.11.2023 - 2 K 696/19 E - EFG 2024, 371 und BFH, Urt. v. 03.06.2025 - VIII R 35/23, nicht zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen).
d) Im Schrifttum wird die antizipierte Ausübung eines Andienungsrechts des Emittenten überwiegend nicht erörtert. Einige Stimmen lassen insoweit allerdings Spielraum für Interpretationen.
aa) Nach Geurts (in: Bordewin/Brandt, § 20 EStG Rn. 766a) soll die Ausübung eines Andienungsrechts (wohl) auch im Fall einer „Zwangsumtausch-Anleihe“ zu bejahen sein, bei der es beim Eintritt eines bestimmten Ereignisses zur Lieferung von Wertpapieren kommt. Das impliziert, dass der Emittent bei der Festlegung der Anleihebedingungen von einem vorvertraglichen Andienungswahlrecht Gebrauch macht. Eine Begründung dafür findet sich in der Kommentierung allerdings nicht.
bb) Nach Steinlein (DStR 2009, 509) setzt § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG die Ausübung eines Gestaltungsrechts voraus. Spielraum für Interpretationen bietet allenfalls eine Aussage zum Anschaffungszeitpunkt. Im Fall der Andienung, so Steinlein, seien die Wertpapiere gemäß § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG angeschafft, sobald nach den Emittentenbedingungen feststehe, dass es zur Lieferung kommen werde (zustimmend Jachmann-Michel in: Lademann, EStG, § 20 EStG Rn. 1439 und Jochum in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 20 Rn. Fa 41). Das kann Unterschiedliches bedeuten. Hat der Emittent ein freies Wahlrecht, ob er anstelle der Rückzahlung in Geld Wertpapiere liefern will, und entscheidet er sich dafür, steht nach den Anleihebedingungen fest, dass es zur Lieferung von Wertpapieren kommen wird, sobald der Emittent von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht hat. Hat der Emittent dagegen kein Wahlrecht, steht nach den Anleihebedingungen fest, dass es zur Lieferung von Wertpapieren kommen wird, sobald die Bedingungen eingetreten sind, unter denen der Emittent Wertpapiere zu liefern hat. Den Aussagen kann nicht entnommen werden, dass der Autor auch für diesen Fall die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG bejaht.
cc) Ganz überwiegend wird § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG dagegen so verstanden, dass die Kapitalforderung mit einem Gestaltungs- oder Andienungsrecht ausgestattet sein muss (so wörtlich Moritz/Strohm in: Frotscher/Geurts, EStG, § 20 Rn. 329; Peters in: KKB, EStG, § 20 EStG, 7. Aufl., Rn. 337: Schuldverschreibung mit Inhaber- oder Emittentenwahlrecht; Schmidt/Levedag, EStG, 44. Aufl. § 20 Rn. 217). Gleichbedeutend formuliert Buge (in: Herrmann/Heuer/Raupach, § 20 EStG Rn. 586), dass von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG nur Schuldverschreibungen erfasst werden, deren Emissionsbedingungen entweder dem Gläubiger oder dem Emittenten ein Rückzahlungswahlrecht einräumen (ebenso Fissenewert in: Herrmann/Heuer/Raupach, § 20 EStG Rn. J21 4). Die Vertreter dieser Auffassung müssen bereits die erste Frage verneinen. Wenn das Andienungsrecht im Sinne der Vorschrift in den Anleihebedingungen vorgesehen sein muss, kann es nicht zugleich durch die einseitige Festlegung von Anleihebedingungen ausgeübt werden (ebenso Schmidt in: BeckOK EStG, 21. Ed. 01.04.2025, § 20 EStG Rn. 1351a).
e) Der Senat schließt sich der zuletzt genannten und im Schrifttum überwiegenden Auffassung an. Danach erfasst § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG Fälle nicht, in denen weder der Emittent noch der Inhaber nach den Anleihebedingungen das Recht haben, anstelle der Rückzahlung der Anleihe in Geld einseitig Wertpapiere andienen oder die Lieferung von Wertpapieren verlangen zu können. Das ergibt die Auslegung der Norm, die sich vor allem auf ihren Wortlaut stützt.
aa) Gesetzlich vorausgesetzt ist „bei sonstigen Kapitalforderungen“ entweder ein „Recht“ des Inhabers, vom Emittenten „anstelle“ der Zahlung eines Geldbetrages die Lieferung von Wertpapieren verlangen zu können oder ein „Recht“ des Emittenten, dem Inhaber „anstelle“ der Zahlung eines Geldbetrages (solche) Wertpapiere andienen zu dürfen. Von diesem Recht muss der jeweils Berechtigte Gebrauch gemacht haben mit der Folge, dass anstelle der eigentlich vereinbarten Geldzahlung bei Fälligkeit der Anleihe Wertpapiere zu übertragen sind.
bb) Es muss sich um ein einseitiges Recht handeln. Das ergibt sich aus dem Wort „andienen“. Zwar fehlt im Gesetz und in der Rechtsprechung eine verbindliche Definition für den Begriff des „Andienungsrechts“. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat bisher jedoch nur dann von einem Andienungsrecht gesprochen, wenn in einem bestehenden Rechtsverhältnis die eine Seite berechtigt, aber nicht verpflichtet war, der anderen Seite Wertpapiere zum Erwerb anzubieten und die andere Seite dieses Angebot (auf der Verpflichtungsebene) nicht ablehnen konnte. Typisch für ein Andienungsrecht ist danach, dass der Berechtigte davon Gebrauch machen kann, aber nicht muss und dass die Gegenseite dem ausgeübten Andienungsrecht nichts entgegensetzen kann.
Von einem „Andienungsrecht“ kann dagegen, anders als die Kläger meinen, nicht gesprochen werden, wenn in einem zweiseitigen Vertrag die eine Seite verpflichtet ist, der anderen Seite Wertpapiere zu liefern. Sie hat dann zwar (in Bezug auf das Zustandekommen des dinglichen Erfüllungsgeschäfts) auch das „Recht“, die Wertpapiere anzubieten, macht insofern aber nicht von einem Andienungsrecht Gebrauch, sondern erfüllt ihre Lieferverpflichtung. Das dingliche Erfüllungsgeschäft kann nicht einseitig zustande gebracht werden. Dies schließt es aus, davon zu sprechen, dass der zur Lieferung von Wertpapieren verpflichtete Schuldner von einem Andienungsrecht Gebrauch macht, wenn er dem Gläubiger die Übereignung der (ohnehin) geschuldeten Wertpapiere anbietet. Es handelt sich dann nur um das Angebot zum Abschluss des dinglichen Erfüllungsgeschäfts, das noch vom Gläubiger angenommen werden muss.
cc) Das Recht des Emittenten, dem Inhaber anstelle der Geldzahlung die Lieferung von Wertpapieren andienen zu können, muss sich außerdem aus den Anleihebedingungen ergeben.
Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG muss eine sonstige Kapitalforderung (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG, § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG) bereits entstanden sein („bei sonstigen Kapitalforderungen“). Gemeint ist der Anspruch des Inhabers der Schuldverschreibung auf Rückzahlung der Anleihe bei ihrer Fälligkeit. Der Anleihevertrag muss zustande gekommen sein. Davor gibt es keinen Rückzahlungsanspruch des Inhabers der Schuldverschreibung in Geld. Vorher kann auch kein Recht des Emittenten bestehen, „anstelle“ der Rückzahlung in Geld etwas anderes „andienen“ zu dürfen. Auch die im Gesetz verwendeten Bezeichnungen „Emittent“ oder „Inhaber“ setzen das Rechtsverhältnis, in dem sich zwei Personen in diesen Rollen gegenüberstehen, bereits voraus. Vor dem Abschluss des Anleihevertrags können die zukünftigen Vertragspartner noch nicht (wie im Gesetz geschehen) als „Emittent“ oder „Inhaber“ bezeichnet werden. Das spricht zusammen genommen hinreichend eindeutig dafür, dass sich das von der Norm vorausgesetzte Recht des Emittenten, aus den Anleihebedingungen ergeben muss.
Ein vorvertragliches Andienungsrecht des Emittenten kann deshalb nicht angenommen werden. In der einseitigen Festlegung von Anleihebedingungen durch den (zukünftigen) Emittenten liegt dann auch keine antizipierte Ausübung eines Andienungsrechts im Sinne der Vorschrift. Wer als zukünftiger Emittent die Anleihebedingungen in seinem Interesse einseitig festlegt, übt (noch) kein Recht gegenüber einem zukünftigen Vertragspartner (Inhaber) aus, sondern macht allenfalls von einer faktischen Machtposition Gebrauch. Darin liegt schon begrifflich nicht die Ausübung eines Rechts, von dem nach dem Gesetz „Gebrauch gemacht“ werden muss. Außerdem ergibt sich – wie dargestellt – aus dem Wortlaut des Gesetzes, dass die Möglichkeit, anstelle der Rückzahlung in Geld die Lieferung von Wertpapieren andienen zu können, in dem Rechtsverhältnis bestehen muss, auf welches es einwirkt. Gegen die Annahme eines vorvertraglichen Andienungsrechts sprechen auch praktische Erwägungen. Es bedürfte dann auch tatsächlicher Feststellungen dazu, ob der Emittent die Anleihebedingungen wirklich einseitig festgelegt hat. Das würde die Rechtsanwendung unnötig kompliziert machen und insbesondere die zum Kapitalertragsteuerabzug verpflichteten Stellen überfordern.
dd) Unerheblich ist, ob sich die Zeitbestimmung („bei Fälligkeit“) auf die Leistungshandlung („verlangen“ oder „andienen“) oder auf die Ausübung des Wahlrechts bezieht. Sprachlich ist beides möglich. Das ändert aber nichts daran, dass § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG zumindest ein einseitiges Recht des Emittenten voraussetzt, anstelle der Rückzahlung von Geld Wertpapiere andienen zu dürfen, von dem bei Fälligkeit oder davor, aber nach Vertragsschluss, Gebrauch gemacht worden sein muss.
ee) Einem (denkbaren) Verständnis, wonach die Norm nur voraussetzt, dass zur Erfüllung des Rückzahlungsanspruchs (ohne Ausübung eines einseitigen Rechts) Wertpapiere übereignet worden sind, kann der Senat nicht nähertreten. Dann würde die Formulierung des Gesetzes, das – wie dargelegt – das „Gebrauchmachen“ von einem einseitigen Recht voraussetzt, weitgehend leerlaufen und sinnlos erscheinen. Dagegen spricht auch, dass der Gesetzgeber mit § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG bewusst an die ältere Rechtsprechung zur Wandelschuldverschreibung angeknüpft hat, die die Anschaffung der Schuldverschreibung und den Erwerb der Aktien nach Ausübung des Wandlungsrechts aus der Sicht des Aktionärs als Einheit aufgefasst und die Ausübung des Wandlungsrechts nicht als (eigenständigen) Realisationsakt behandelt hat (vgl. BFH, Urt. v. 21.02.1973 - I R 106/71 - BStBl II 1973, 460). Dementsprechend wollte der Gesetzgeber Umtausch- und Aktienanleihen sowie Wandelanleihen i.S.d. § 221 Abs. 1 AktG in den Anwendungsbereich der Norm einbeziehen (
BT-Drs. 16/11108, S. 16) und mithin explizit Schuldverschreibungen, die jeweils auf Inhaber- oder Emittentenseite typischerweise ein Erfüllungswahlrecht voraussetzen.
Eine Auslegung der Vorschrift, die das Gebrauchmachen von einem einseitigen Recht für obsolet hielte, wäre vor diesem Hintergrund eine teleologische Erweiterung, für die eine Veranlassung nicht ersichtlich ist. Der Senat hat bereits, wenn auch in anderem Zusammenhang, entschieden, dass § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG nicht teleologisch auszulegen, einzuschränken oder zu erweitern ist (BFH, Urt. v. 08.05.2024 - VIII R 28/20 - BFH/NV 2024, 1370). Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Norm nach dem Willen des Gesetzgebers das Abzugsverfahren für Steuerpflichtige und Quellenabzugsverpflichtete praktikabel ausgestalten soll (vgl. die Gesetzesbegründung zum zunächst auf die Andienung von Aktien beschränkten Regierungsentwurf in
BR-Drs. 545/08, S. 73 und
BT-Drs. 16/10189, S. 50 sowie die Begründung des Finanzausschusses zur überarbeiteten Fassung, die den Anwendungsbereich der Vorschrift auf die Andienung von anderen Wertpapieren ausdehnt in
BT-Drs. 16/11108, S. 16). Diesen Zweck kann die Vorschrift zur Überzeugung des Senats nur erfüllen, wenn sie möglichst wörtlich verstanden wird.
f) Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Die Anleihebedingungen sehen – was auch zwischen den Beteiligten nicht streitig ist – ein einseitiges Recht des Emittenten, anstelle der Geldzahlung Wertpapiere andienen zu können oder ein einseitiges Recht des Inhabers, anstelle der Geldzahlung Wertpapiere verlangen zu können, nicht vor. Der Tatbestand des § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG ist nicht erfüllt. Das Finanzgericht ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sein Urteil ist aufzuheben.
3. Die Sache ist spruchreif. Der BGH hat in der Sache selbst entscheiden können und die Klage abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Der angefochtene Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Er ist zwar teilweise rechtswidrig, kann aber wegen der Bindung an das Klagebegehren und des im finanzgerichtlichen Verfahren geltenden Verböserungsverbots (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) nicht zum Nachteil der Kläger geändert werden.
a) Das Finanzamt hat bei der Ermittlung des Einkommens der Kläger zuletzt einen im Rahmen der Abgeltungsteuer zu berücksichtigenden Verlust i.H.v. 1.148.291 Euro zugrunde gelegt. Dieser ergab sich als Saldo aus dem vom Kläger vereinnahmten Geldbetrag (24.627.416 Euro) einerseits und dem unter Anwendung von § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG ermittelten Veräußerungsverlust (25.775.707 Euro) aus der Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die GmbH andererseits.
Bei zutreffender Rechtsanwendung hat der Kläger aus der Einlösung der Teilschuldverschreibungen einen dem gesonderten Tarif unterliegenden Veräußerungsverlust i.H.v. mindestens 1.180.075,58 Euro und aus der Veräußerung der TecDAX-Zertifikate an die GmbH einen tariflich zu besteuernden Gewinn i.H.v. mindestens 31.784,39 Euro erzielt. Die Einkommensteuer der Kläger wäre danach im Streitjahr höher festzusetzen, was unterbleiben muss.
Die im Rahmen des gesonderten Tarifs (§ 32d Abs. 1 EStG) zu berücksichtigenden Verluste wären danach zwar um mindestens 31.784,39 Euro höher anzusetzen. Zugleich wären aber auch die dem persönlichen Splittingtarif der Kläger unterliegenden positiven Einkünfte um mindestens 31.784,39 Euro zu erhöhen. Da das Finanzgericht für die Kläger eine durchschnittliche Steuerbelastung bezogen auf das zu versteuernde Einkommen von 44,9274% festgestellt hat, kann offenbleiben, ob es sich bei dem vom Finanzgericht für die TecDAX-Zertifikate festgestellten Kurs am 28.12.2015 um den niedrigsten Kurs an diesem Tag gehandelt hat. Ein niedrigerer Kurs würde beide Besteuerungsgrundlagen jeweils im selben Umfang erhöhen, aber per Saldo zu einer weiteren Erhöhung der festzusetzenden Steuer führen. Da eine Verböserung im finanzgerichtlichen Verfahren nicht stattfindet, bleibt die Steuerfestsetzung im angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr unverändert.